SWR4 Abendgedanken
Ich liebe das Abendlied „Der Mond ist aufgegangen“. Vor allem die dritte Strophe. Da dichtet Matthias Claudius: „Seht ihr den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen und ist doch rund und schön! So sind wohl manche Sachen, sie wir getrost belachen, weil unsre Augen sie nicht sehn.“ Ich finde, in diesen Worten steckt eine tiefe Wahrheit. Denn wie oft bilde ich mir ein Urteil über ein Thema oder einen Menschen und sehe dabei nur die Hälfte.
Das ist mir jetzt wieder bewusst geworden. Ich habe in der letzten Zeit oft gelesen und in Nachrichten gehört, dass die Jugendlichen heutzutage rücksichtsloser und egoistischer seien als früher. Sie seien laut, sie grölen nachts herum und stehen im Bus nicht mehr für ältere Menschen auf. So habe ich das immer wieder gehört. Und natürlich habe ich Erfahrungen gemacht, die dazu gepasst haben.
Aber jetzt weiß ich: Das ist nur die halbe Wahrheit. Als ich vor einiger Zeit mit der S-Bahn nach Karlsruhe gefahren bin, da hat an einer Haltestelle eine ältere Frau mit einem Rollator versucht, noch die Bahn zu erreichen. Aber sie war noch so weit weg, dass sie keine Chance hatte. Das konnte jeder sehen. Es war ein junger Mann, der von seinem Sitz aufgestanden ist und sich in die Tür der Bahn gestellt hat. Er hat sie so lange blockiert, bis die ältere Frau den Einstieg erreicht hatte.
So viel Aufmerksamkeit und Hilfsbereitschaft hätte ich von dem jungen Mann nicht erwartet. Und ich war auch ein wenig beschämt: Ich hätte das ja auch tun können. Und ich habe gemerkt: Das mit der angeblichen Rücksichtslosigkeit von jungen Leuten ist gar nicht die ganze Wahrheit. Das gibt es manchmal. Ja. Aber es gibt mindestens so oft das Gegenteil. Viele junge Menschen sind sehr wohl freundlich und hilfsbereit. Ich will mir das merken. Denn ich denke viel zu oft, ich wüsste genau, wie andere Menschen sind und warum sie so sind. Ich verurteile sie dann schnell in meinem Herzen, ohne sie und ihre Lebensgeschichte zu kennen. Ich denke, was ich sehe, ist die ganze Wahrheit. Aber oft ist es nur die halbe Wahrheit. Darum lohnt es sich, einen zweiten Blick zu wagen. Wenn ich mit Menschen ins Gespräch komme, die mir fremd sind, dann verstehe ich sie manchmal besser. Und wenn ich genauer hinsehe, dann mache ich neue Erfahrungen. Ja, es stimmt einfach, was Matthias Claudius sagt: Manches ist nur halb zu sehen und ist doch rund und schön.
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