SWR4 Abendgedanken
Gestern habe ich Zeit geschenkt bekommen. Und nicht nur ich; wir alle: eine ganze Stunde, weil die Uhr in der Nacht von drei auf zwei Uhr zurückgestellt worden ist. So hatte der Sonntag ausnahmsweise 25 Stunden und ich einen längeren entspannten Abend. Natürlich weiß ich, dass ich die Stunde wieder hergeben muss. Wenn im Frühjahr die Uhr wieder auf Sommerzeit vorgestellt wird, dann wird mir die Stunde wieder weggenommen, und das ist weniger angenehm und so mancher leidet darunter. Trotzdem denke ich: Wie schön wäre das, wenn ich selbst die Zeit hin und herstellen könnte, so wie ich es brauche. Wenn ich im Stau stehe oder beim Arzt im Wartezimmer festsitze, würde ich die Zeit gerne öfter mal eine Stunde vorstellen. Und wenn ich einen wundervollen Augenblick erlebe, von dem ich mir wünschte, dass er nie vergeht, dann würde ich gerne die Zeit für eine Weile anhalten. An einem Tag, an dem ich mit meiner Arbeit einfach nicht fertig werde, wünsche ich mir, ich könnte dem Tag noch zwei Stunden hinzufügen. Aber ich weiß ja: Das geht nicht. Ich kann die Zeit nicht verändern, auch meine Lebenszeit nicht. Als ich ein Kind war, konnte es mir mit dem Größer-Werden nicht schnell genug gehen. Und als erwachsener Mann hätte ich die Zeit manchmal gerne angehalten. Doch jetzt, wo ich älter werde, begreife ich mehr und mehr, dass ich auch meine Lebenszeit nicht in den Händen habe. Sie ist begrenzt.
Jesus hat einmal gefragt: „Wer von euch kann dadurch, dass er sich Sorgen macht, sein Leben auch nur um eine Stunde verlängern?“ (Mt 6,27) Die Antwort darauf lautet natürlich: Niemand! Ich bin nicht der Herr über meine Zeit. Ich kann sie nicht schneller laufen lassen und ich kann sie nicht aufhalten. Aber ich kann etwas anderes: ich kann darauf vertrauen, dass meine Zeit nicht einfach so abläuft, sondern geborgen ist in Gottes Hand. Und Gott weiß, wieviel Zeit ich brauche. Für jeden Tag und für mein ganzes Leben. In diesem Vertrauen kann ich jede Minute und jede Stunde als Geschenk begreifen und mich darin üben, meine Tage bewusst zu leben. Dabei hilft mir auch ein Satz, den die englische Ärztin Cicely Saunders gesagt hat: „Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben“.
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