SWR1 3vor8
Bilder von einer Demonstration: Aufgebrache Demonstranten auf der einen, Polizisten auf der anderen Seite. Dazwischen eine unsichtbare Frontlinie. Eine Demonstrantin hat auf einmal Blumen in der Hand. Sie überlegt kurz und streckt sie einem der Polizisten hin. Unsicher, was da wohl dahintersteckt, schaut der Polizist die Blume an, aber dann nimmt er sie und seine Gesichtszüge entspannen sich ein wenig.
„Werdet barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist“ – das sagt Jesus zu seinen Jüngerinnen und Jüngern im Lukasevangelium, und darüber wird heute in vielen evangelischen Gottesdienste gepredigt.
Barmherzigkeit – wenn ich dieses Wort erklären soll, finde ich das oft gar nicht so einfach. „Sich von der Not seines Gegenübers anrühren lassen“ – habe ich als Erklärung gefunden und finde, das passt. Am besten erklären aber oft kleine Geschichten und Bilder solche großen Worte. Wie die Szene mit der Demonstrantin und dem Polizisten. Die Demonstrantin lässt sich davon anrühren, dass der Polizist, der nicht nur als Gegner wahrgenommen werden will. Die Blume, das Symbol der Barmherzigkeit.
„Werdet barmherzig!“ – das Tolle an diesem Bibelvers ist, dass er nichts Unmögliches verlangt. Im „werden“ ist ja enthalten, dass wir nicht schon einfach barmherzig sind. Wie werden wir barmherzig? Ein Beispiel:
In Situationen, in denen ich Menschen gerne erst einmal abstempeln möchte, weil ich es unfreundlich oder sogar unerhört finde, was sie tun – in solchen Situationen versuche ich, auf die Not zu schauen, die dieser Mensch vielleicht hat. Manchmal gelingt mir das, wenn ich unfreundliche Kommentare im Internet lese, über die ich mich im ersten Moment total aufrege. Dann versuche ich zu überlegen, was die Not hinter dieser Pöbelei sein könnte und antworte mit ein paar überraschend freundlichen Worten. Oft passiert dadurch nichts. Aber tatsächlich kam es auch schon vor, dass es dann eine überrascht-freundliche Reaktion zurückgegeben hat. Weil Menschen nicht mit Barmherzigkeit rechnen. Weil Barmherzigkeit auch hier die Fronten aufbrechen kann. Weil der Pöbler gemerkt hat, dass da ja doch auch Menschen hinter den Kommentaren stecken.
Werdet barmherzig. In der Bibel ist das Paradebeispiel dafür der Samariter, der einen zusammengeschlagenen Mann am Wegrand findet, und Erste Hilfe leistet und ihn versorgt. Es muss ja gar nicht immer eine so große Heldengeschichte sein. Manchmal reicht eine unerwartet liebe Geste, eine Blume, eine überraschend freundliche Antwort. Nicht weltbewegend – aber barmherzig.
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