Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

21JUN2025
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Nur der Esel nennt sich selbst zuerst. Ich zuerst und dann du – das ist unhöflich und keine gute Kinderstube. Ein wunderbares Sommerlied, das Paul Gerhardt gedichtet hat, geht aber genau so:

Geh aus, mein Herz, und suche Freud
in dieser lieben Sommerzeit
an deines Gottes Gaben.
Schau an der schönen Gärten Zier
und siehe, wie sie – Achtung, jetzt kommt’s – mir und dir
sich ausgeschmücket haben.

„Mir und dir“ – das passiert mir manchmal auch immer noch, obwohl es mir von Kindesbeinen an eingetrichtert wurde, dass nur der Esel sich selbst zuerst nennt. Ich und du, mein und dein, mir und dir - das schreibe ich auf die Schnelle schon einmal in dieser Reihenfolge, aber genauso schnell ist es auch wieder korrigiert, noch bevor es irgendjemand merkt. Damit ich nicht als Esel dastehe.

Paul Gerhardt, der berühmte Liederdichter aber, der hat es in dieser Liedstrophe einfach stehen lassen: Mir und Dir. Was ist nur in ihn gefahren, dass er sich selbst zuerst nennt? Ich glaube, er ist einfach so begeistert über all die Schönheit der Natur. Er sieht wunderschöne Gärten und denkt: „Alles grünt und blüht. Die vielen Blumen! Die ganze Welt hat sich geschmückt – für mich! Ein Geschenk Gottes – natürlich für alle Menschen, aber in diesem Moment doch zuallererst einmal für mich.“
Und Paul Gerhardt will kein störrischer Esel sein, der über dieses Geschenk hinwegsieht. Er spürt: Gott meint es gut mit mir. Denn mir zeigt Gott alle diese Herrlichkeiten, auch für mich hat er das gemacht. Ich soll das sehen. Ich soll die Augen aufmachen und aus dem Staunen gar nicht mehr herauskommen. Gott beschenkt mich. Tut mir Gutes. Und nur wenn ich das begreife, und mich darüber freue, kann ich es weitergeben. Nur wenn ich glücklich bin, kann ich andere mit diesem Glück anstecken. Es muss von mir ausgehen. Deshalb heißt es zuerst "mir“ und dann „dir“.

Heute beginnt der Sommer. Zuerst für mich und dann auch für alle anderen.
Eine unhöfliche Formulierung gegen falsche Bescheidenheit.

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