SWR Kultur Wort zum Tag
Ich habe den Soldatenfriedhof in Colleville-sur-mer besucht. Dort liegen die meisten amerikanischen Soldaten, die am 6. Juni 1944 bei der Landung der Alliierten in der Normandie und in den darauffolgenden Kämpfen gefallen sind. Scheinbar endlos reihen sich dort die weißen Kreuze aneinander. Allein die schiere Masse der Kreuze zeigt die Monstrosität der Ereignisse dort vor über 80 Jahren. Der Friedhof liegt etwas oberhalb des als Omaha Beach bezeichneten Strandes. Man hört, wie die Wellen anbranden. Die waren 1944, nach dem sogenannten D-Day Berichten zufolge vom Blut der Soldaten rot gefärbt. Es ist ein Ort, der mich sehr aufgewühlt und ratlos gemacht hat.
Also brauchte ich eine Verschnaufpause und habe mich etwas abseits auf eine Bank gesetzt. Irgendwann habe ich gemerkt, dass hinter dem Gebüsch neben mir ein Liebespärchen zugange ist. Zwei Junge Leute. Sie kicherten und alberten herum, küssten und neckten sich. Das hat mich gestört. Ich bin weggegangen. Ja, ich war entsetzt über dieses respektlose Verhalten an einem so geschichtsträchtigen, würdevollen Ort. Ich bin dann weg und durch die Reihen der Kreuze gegangen. Schließlich ist mir aufgefallen. wie jung die meisten der gefallenen Soldaten waren. Viele 18 oder 19 Jahre alt. Sie sind aus dem Landungsboot gesprungen und über den Strand gerannt mitten ins Maschinengewehrfeuer der Deutschen. Wie ich gelesen habe, waren die ersten Angriffswellen wohl hauptsächlich mit jungen und unerfahrenen Soldaten besetzt, weil die nicht wussten, was auf sie zukommen würde. Man hat wohl geglaubt, dass man sie leichter ins Feuer schicken kann. Dann musste ich wieder an das knutschende Liebespaar von eben denken, das etwa im gleichen Alter sein musste, wie die meisten der Soldaten hier. Die etwas taten, was denen verwehrt geblieben war. Viele dieser dort am Strand Gefallenen haben niemals ein Mädchen geküsst, waren niemals verliebt gewesen. Haben keine Chance dazu gehabt, weil sie den Strand in der Normandie stürmen mussten. Da wurde ich etwas milder in meinem Urteil über das Liebespaar. Eigentlich freute ich mich, dass sie getan haben, was sie getan haben. Dass sie sich verhalten hatten, wie sich junge Leute in diesem Alter verhalten sollten. Dass sie nicht wie ihre Altersgenossen mit einem Gewehr in der Hand auf den Atlantikwall zustürmen mussten, sondern turtelten und knutschten. Und ich war froh, dass sie das konnten. Auch an diesem Ort. Und vielleicht ist es das Beste, was man an so einem Ort tun kann. Sich küssen.
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