Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

06JUN2025
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Sammeln kann man ja vieles. Es gibt Leute, die stöbern auf Flohmärkten nach Comic-Heften, manche fahnden im Internet nach alten Schallplatten, andere sammeln Briefmarken oder Fossilien. Eine Frau hat mir neulich von einer ungewöhnlichen Sammelleidenschaft erzählt: Sie sammelt Abendgebete. Wenn sie ein schönes findet, schreibt sie es in ein Heft. Oder klebt es ein. Inzwischen hat sie schon eine Menge davon.

Mit ihren Abendgebeten ist es nicht so wie mit anderen Sammlerstücken, die nur herumstehen und oft irgendwo in der Ecke verstauben. Nein, sie sammelt die Gebete nicht nur, sie betet sie auch. Jeden Abend ein anderes. Dafür braucht sie ihre große Sammlung.

„Ich bin ein Fan von Abendgebeten“, hat sie mir erzählt. „Es tut einfach so gut, am Abend noch einmal auf den Tag zurückzublicken – auf die guten, gelungenen Dinge, aber auch auf das, was schwierig war. Und dann alles bei Gott abzulegen.“

Eines von ihren Lieblingsgebeten hat sie mir auch gleich vorgelesen. Es stammt von Jörg Zink:

Gott, so heißt es in dem Gebet, du allein weißt, was dieser Tag wert war. Ich habe vieles getan und vieles versäumt. Ich habe vieles versucht und vieles nicht vollendet. Ich bin den Meinen viel Liebe schuldig geblieben. Ob dieser Tag seinen Ertrag brachte, weiß ich nicht. Du allein siehst es. Ich lege ihn in deine Hand. Ich bin umgeben von Nacht. Aber ich weiß, dass ein Morgen kommt und die Sonne aufgeht: deine Liebe und dein Licht. Amen

Wenn sie abends so betet, hat mir die Frau erzählt, dann hilft ihr das beim Einschlafen. Weil sie alles loslassen kann, was ihr im Kopf herumgeht und auf dem Herzen liegt. „Aber das Beste“, hat sie gesagt, „das Beste ist, dass es mir nicht nur am Abend hilft. Es verändert auch meine Tage. Es strahlt irgendwie auf sie aus.“

Ich verstehe, was sie meint: Wenn ich am Abend loswerden kann, was mich belastet, dann gehe ich auch gelassener durch den Tag. Ich setze mich weniger unter Druck, dass ich alles schaffen muss. Und ich werde nicht so schnell sauer auf mich und andere, wenn etwas nicht klappt.

„Ich sammele Abendgebete!“ Erst habe ich mich über die ungewöhnliche Sammelleidenschaft der Frau gewundert. Aber inzwischen denke ich: Was für eine gute Idee, für jeden Abend ein neues Gebet zu haben! Und dabei zu spüren: Ich muss nicht alles mit mir allein ausmachen – und ich kann jeden Tag neu beginnen. Ein Satz aus dem Lieblingsgebet der Frau lässt sich ja auch morgens wunderbar beten: Ich weiß, dass ein Morgen kommt und die Sonne aufgeht: deine Liebe und dein Licht.

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