Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW
Fast jeden Tag fahre ich auf dem Radweg an einem Wegkreuz vorbei. Ein großes Kreuz aus dunkelbraunem Holz, oben der Körper des gekreuzigten Jesus, darüber eine Art schützendes Vordach. Davor steht eine Blumenschale, die immer wieder frisch bepflanzt wird. Jetzt im Frühjahr leuchten darin bunte Blumen.
Seit vielen Jahren fahre ich fast jeden Tag an diesem Kruzifix vorbei. Klar, nicht auf jeder Fahrt nehme ich es bewusst wahr. Aber ich bin froh, dass es da ist. Denn immer wieder fällt mein Blick doch auf den Mann am Kreuz: Schmal, fast nackt und verkrampft hängt er da – und schaut mich traurig an. Der Schmerz hat sich tief in seine Gesichtszüge eingegraben.
Ich weiß: Viele mögen solche Kruzifixe nicht. Weil das, was darauf dargestellt ist, so brutal ist. Und das ist es ja auch. Trotzdem: Für mich ist es gut, dass das Wegkreuz am Radweg steht. Denn oft, wenn mein Blick im Vorbeifahren an Jesus am Kreuz hängen bleibt, hat er mir etwas zu sagen.
Wenn ich beschwingt durch den Frühsommer radle und mich am satten Grün um mich herum freue, dann zeigt er mir: Wie gut, dass du heute hier unterwegs sein kannst, frei, mit genügend Kraft – ohne Angst und ohne Schmerzen. Das ist nicht selbstverständlich, deshalb: genieß‘ es! Und vergiss dabei die anderen nicht, die das nicht können. Dann fällt mir zum Beispiel die alte Dame ein, die ich besucht habe. Früher war sie gern mit dem Rad unterwegs – heute kommt sie nicht mehr aus ihrer Wohnung.
An anderen Tagen strample ich eilig am Wegkreuz vorbei, ganz außer Atem, um ja rechtzeitig zu einem Termin zu kommen. Dann trifft mich der Blick von Jesus – und scheint zu fragen: Ist das, wofür du dich da abhetzt, wirklich so wichtig? Oder gibt es eigentlich ganz andere Probleme in deinem Leben und auf der Welt, die wichtiger wären?
Und manchmal bin ich auch schon mit Tränen in den Augen am Wegkreuz vorbeigefahren. Weil ich traurig war über einen Streit, weil ich mir schlimme Sorgen gemacht habe, oder mich einfach mit allem überfordert gefühlt habe. Dann hat es mir gutgetan, in die traurigen Augen von Jesus am Kreuz zu schauen. Und zu spüren: Er weiß, wie es mir geht. Er fühlt mit mir mit. Ich bin nicht allein mit meinen Tränen. Gott ist da.
Ja, es ist gut für mich, dass das Kreuz am Radweg steht. Und es freut mich, dass andere das auch so sehen. Und deshalb manchmal frische Blumen bringen.
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