Anstöße SWR1 RP / Morgengedanken SWR4 RP
Es gibt sie, die heiligen Augenblicke. Für mich ist der erste Atemzug so ein heiliger Augenblick. Und der letzte Atemzug. Wenn ich mein Leben aushauche, alle Kontrolle verliere, und falle: Aus dem Leben falle, in die Ewigkeit.
Rätselhaft und furchteinflößend zugleich. Und ein heiliger Augenblick, weil ich glaube, dass Gott mein Leben zurücknimmt, das er mir mit dem ersten Atemzug gegeben hat.
Vielleicht ist das ja auch ein Grund, weshalb viele Angehörige so dringend dabei sein wollen, wenn einer ihrer Liebsten stirbt; und weshalb sie so lange mit sich hadern, wenn es ihnen das nicht gelingt. Weil sie spüren: „Das ist ein besonderer, ein heiliger Augenblick!“
Natürlich gibt es Sterbende, die genau das möchten: all ihre Lieben um sich haben. Und doch ist Sterben so unterschiedlich, wie alles im Leben, und es gibt auch viele, die möchten ganz ungestört für sich allein sein.
Ich habe einmal ein Trauergespräch mit einer Witwe geführt, die konnte sich nicht verzeihen, dass sie nicht dabei war, als ihr Mann gestorben ist.
„Jede Minute bin ich bei meinem Mann gewesen, im Krankenhaus“, hat sie gesagt. „Aber ausgerechnet, als er gestorben ist, war ich nicht da!“
Im Gespräch ist dann herausgekommen: Ihr Mann hatte sie mit einem völlig unsinnigen Auftrag weggeschickt.
„Bing mir bitte frische Socken“, hat er zu ihr gesagt. Dabei waren noch genügend Socken im Schrank. Aber er hat darauf bestanden. Und als sie zurückkam, war er tot.
Als sie mir die Geschichte erzählt, ist es ihr plötzlich selber aufgegangen: „Mein Mann wollte, dass ich weggehe! So war es leichter für ihn…“
Und vielleicht erklärt das auch manch andere Sterbegeschichte, bei der niemand anwesend war, obwohl sich die Angehörigen Tag und Nacht gekümmert haben.
So ist das mit dem letzten, heiligen Augenblick: Er bleibt rätselhaft. Nur in einem bin ich mir sicher: Dann wird alles von uns abfallen - jede Last, jede Not, jede Erwartung und jede Enttäuschung. Und das ist gut. Für alle.
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