Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW
Ich sitze an einer fürstlich gedeckten Tafel. Die Gastgeber haben sich wirklich ins Zeug gelegt. Der Tisch ist schön dekoriert. Es gibt allerlei süße und herzhafte Leckereien. Ein feiner Wein wartet darauf, verkostet zu werden. Alles ganz zauberhaft.
Das einzige Problem ist: ich will gar nichts essen. Aus gesundheitlichen Gründen tue ich das seit einiger Zeit grundsätzlich nach 18 Uhr nicht mehr. Nun ist es 20 Uhr. Ich hatte angenommen, so spät wird mir kein ausgewachsenes Abendessen mehr serviert. Die Gastgeber haben das offensichtlich anders gesehen. Hätten wir mal miteinander gesprochen.
Ich kenne das auch selber. Da mache ich mir Gedanken darüber, wie ich einer Person etwas Gutes tun kann. Meiner Frau, meinem Freund, der Nachbarin. Und nicht nur einmal ist es schon vorgekommen, dass ich mit meiner Annahme zumindest knapp daneben gelegen habe.
Jesus hat das anders gemacht. Er mutmaßt nicht, was er für Menschen tun kann. Er fragt nach. Zum Beispiel einen blinden Mann, der am Straßenrand sitzt. Dieser Mann bekommt mit, dass Jesus in der Nähe ist. Und er ruft nach Jesus. Nach kurzer Zeit wird Jesus aufmerksam. Der blinde Mann wird zu Jesus gebracht.
Tja, was könnte dieser Mann nur von Jesus wollen? Sehen will er natürlich. Jesus hat schon viele Menschen gesund gemacht. Also, dann mal los, Jesus. Aber Jesus entscheidet nicht für diesen Mann, was der zu wollen hat. Er fragt nach: „Was willst du, dass ich dir tue?“ Was kann ich für dich tun?
Diese Haltung fasziniert mich. Jesus tut nie etwas gegen den Willen eines Menschen. Selbst das offensichtlich Gute nicht. Jesus zwingt sich niemandem auf. Bei ihm geht es nicht nach dem Motto: Ich weiß schon, was gut für dich ist.
Jesus lebt echte Augenhöhe mit seinem Gegenüber, indem er nachfragt. Mich macht das nachdenklich. Vielleicht sollte auch ich meinen Gedanken über andere Menschen ein gesundes Maß an Misstrauen entgegenbringen. Im Guten wie im Schlechten.
Der Ausschnitt, den ich von meinem Gegenüber kenne, ist eben genau das: nur ein Ausschnitt - gefärbt durch meine Brille. Um mein Gegenüber besser zu verstehen, macht es Sinn, Fragen zu stellen. Nicht einfach Dinge anzunehmen. Neugierig und offen für den anderen zu bleiben. „Was willst du eigentlich? Was brauchst du? Ich hätte da eine Idee, wäre das hilfreich für dich?“
Mehr fragen und weniger übereinander annehmen. Ich glaube, das hätte das Potenzial, uns näher zueinander zu bringen. Und vielleicht sind es ja sogar schon die Fragen, mit denen ich meinem Gegenüber etwas Gutes tue.
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