SWR Kultur Wort zum Tag
Matthias Claudius: Berühmte Zeitgenossen haben höchst abfällig über ihn geurteilt. Wilhelm von Humboldt hat ihn für eine „völlige Null“ gehalten, Goethe für einen „Narren“. Nun, auch große Denker und Dichter können irren. Mich jedenfalls freut es, dass Matthias Claudius etwas gelungen ist, was der arrogante Dichterfürst Goethe nicht geschafft hat! Claudius hat das bekannteste aller deutschen Lieder gedichtet: „Der Mond ist aufgegangen“. Was für ein Lied! Einzigartig in seiner Schönheit! Mit einer Sprache, die Bilder in die Seele malt: „Die goldnen Sternlein prangen, am Himmel hell und klar, der Wald steht schwarz und schweiget.“
Matthias Claudius konnte poetisch und zugleich eindrücklich formulieren. Stromlinienförmig war er nie, was ihm sicher auch heute noch Schwierigkeiten bereiten würde. Menschen, die nicht im Zeitgeiststrom schwimmen, haben es immer schwer. Einfach dagegen ist die Sprache des Dichters. Ich glaube, das liegt auch daran, dass er ein Herz für Kinder hatte, und das spürt man seinem Lied auch ab. Er hat von und mit seinen Kindern die einprägsame Sprache gelernt: „Lass uns einfältig werden, und vor dir hier auf Erden, wie Kinder fromm und fröhlich sein.“
Dabei ist Einfalt, so wie Claudius sie versteht und gelebt hat, weder dumm noch naiv. Sie ist eine Herzenshaltung. Ein einfältiger Mensch im Sinne des Liederdichters ist jemand, der sich ohne Berechnung öffnen und hingeben kann und dabei auch an den notleidenden Nächsten denkt: „Verschon uns Gott mit Strafen, und lass uns ruhig schlafen. Und unsern kranken Nachbarn auch.“ Wie viele Menschen haben sich von diesem Abendlied schon trösten lassen. Manchmal mit Tränen in den Augen. Matthias Claudius hat Seelsorge gedichtet.
Mit meiner kleinen Enkelin habe ich sein Lied schon oft gesungen, sie kann es inzwischen auswendig. Sie singt es sehr gerne. Das liegt auch daran, dass Claudius nicht von oben herab pädagogisiert. Er spricht auf Augenhöhe, auch mit Kindern: „Seht ihr den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen und ist doch rund und schön.“ Der Dichter weiß, dass es Dinge im Leben gibt, die nur so erfasst werden können: Mit einem „einfältigen“ Herzen. Und so öffnet er die Herzen von Kindern und Erwachsenen für ein Staunen über die Welt, eine unbefangene Freude über die wunderbare Schöpfung, für Trost in schweren Stunden und eine fröhliche Dankbarkeit für alles, was uns Menschen geschenkt ist.
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