Anstöße SWR1 RP / Morgengedanken SWR4 RP
„Auf – es klappt schon, du schaffst das.“ Ich stehe 100 Meter unterhalb der Gipfelstation des Pic du Midi. Das ist ein Berg in den französischen Pyrenäen. Ich kann nicht mehr. Die Beine sind schwer, die Luft ist knapp. Am liebsten würde ich umdrehen. Da ruft mir von oben eine wildfremde Frau zu: Komm, das schaffst du. Auf geht’s. Und ich gehe los und komme oben an. Ich weiß bis heute nicht, ob ich ohne diesen Ansporn weiter gegangen wäre. Hochgezogen oder getragen hat mich ja keiner. Ich musste den Weg alleine schaffen. Und es hat dann ja auch geklappt. Weil mir von oben jemand Mut gemacht hat: Komm schon, es klappt. Ich hab‘s ja auch geschafft. An dieses Erlebnis muss ich manchmal denken, wenn ich über meine Lebenssituation nachdenke. Ich bin jetzt 68 Jahre alt, im übertragenen Sinne „oben“ angekommen, hab das Arbeitsleben geschafft. Meine Kinder und meine Enkel haben noch so viel vor sich und ich ertappe mich bei den Gedanken: was mag da alles noch auf sie zukommen? Wie steinig und steil wird der Weg sein, den sie noch zu gehen haben? Ganz ehrlich: wird’s mir schon manchmal anders, wenn ich so auf das Weltgeschehen blicke. Meine Eltern und Großeltern lebten nach der Devise: unsere Kinder sollen es mal besser haben und ich als ein Vertreter der Baby-Boomer-Generation habe davon profitiert. Und was tun wir als Gesellschaft? Wir Alten lasten den Jungen immer mehr auf. Ich habe da auch keine Lösung und ich möchte auch den Rentnerinnen und Rentnern, zu denen ich ja auch gehöre, kein schlechtes Gewissen machen. Aber ich habe beschlossen, mich in meiner kleinen Welt nicht zum Pessimisten zu entwickeln nach dem Motto: unsere Kinder werden es mal schlechter haben. „Kommt, ihr schafft das!“ Für meine Kinder und Enkel ist mir kein Lob und keine Minute Zeit zu viel. Und ich verlange von unserer Gesellschaft, dass für unsere Kinder mindestens genau so viel getan wird wie für den Aufbau der Bundeswehr. Meine Gipfeltour damals am Berg hatte übrigens ein seltsames Ende. „Willkommen. lieber Wanderer“, stand da auf einem Schild an einer verschlossenen Tür. „Der Eintritt zur Gipfelstation beträgt 25€“. Erst wollten wir uns ärgern, dann haben wir gelacht. Man darf sich einfach nicht entmutigen lassen.
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