Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW
Ich schaue gerne in die Gesichter von alten und hochaltrigen Menschen. Und frage mich, was sie wohl alles erlebt und erlitten haben. Wovon ihre Sorgen- und Lachfalten erzählen könnten. Wenn dann auch noch aus dem Gesicht einer über Neunzigjährigen so wache Augen blitzen, dann denke ich: so möchte ich auch alt und älter werden.
Beim Blick in den Spiegel morgens ist das allerdings nicht immer nur erfreulich mit dem Älterwerden und den Falten, die mehr und mehr werden. Gleichzeitig möchte ich sie nicht missen, auch wenn mir ein Gesichtschirurg vor einigen Jahren gesagt hat: „Da ließe sich einiges richten bei Ihnen.“ Damals war ich zunächst perplex…dann hab´ ich schallend gelacht und ihm erklärt: „Nichts da - die Falten und Fältchen sind alle ehrlich erheult und erlacht. Die gehören zu mir und meinem Leben.“ Das, was sich dahinter verbirgt, kann mir keiner nehmen – geschweige denn glattbügeln. Denn natürlich hat es auch Brüche in meinem Leben gegeben. Die will ich nicht schönreden. Manche davon hätte ich mir gern erspart, keine Frage.
Dass ich sie heute liebevoller anschauen kann liegt auch an einem Merksatz aus der Archäologie. Der lautet: „Halte die Bruchstellen heilig!“ Wenn Archäologen ein Fragment einer Statue oder eines Gefäßes finden, schleifen sie die Bruchstellen nicht glatt, damit es schöner aussieht. Schließlich könnte irgendwann das fehlende passende Stück gefunden und dann wie ein Puzzle-Teil ergänzt werden.
So stell ich mir das auch mit den Bruchstellen in meinem Leben vor. Manches kann ich nicht kitten und will es nicht zukleistern. Ich vertrau darauf, dass Gott irgendwann diese Bruchstellen heil macht, dass er ergänzt, was fehlt oder verlorenging, damit ich heil und ganz werde.
Und bis dahin halte ich ihm meine Bruchstellen und Falten hin, die ganze Geschichte, die in meinem Gesicht steht und mit dem ich freundlich auf die Menschen um mich schaue.
Ganz so wie es folgender Text beschreibt:
„Mein Gesicht soll eine Landschaft werden
mit Berg und Tal,
in der Menschen sich verlieren
und wiederfinden können.
Mit Furchen,
in denen der Schabernack lauert
und Winkeln voll Güte und Trost,
mit Ebenen, um sich auszuruhen,
und Gruben, in denen man sich geborgen fühlt.
Und jeder soll sagen:
das ist eine gute Landschaft,
das ist die Landschaft,
die ein Mensch ist.“
Quelle: Aktion Leben Österreich/Gemeinsam für das Leben – ohne Wenn und Aber
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42122