Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

12MAI2025
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„Woran kann man erkennen, dass die menschliche Zivilisation begonnen hat? Und, welcher Gegenstand dient dafür als Beweis“? Diese Fragen haben Studentinnen und Studenten in Amerika ihrer Professorin gestellt.

Die Anthropologin Margret Mead hat ihnen nach kurzem Überlegen geantwortet: „Ein verheilter Oberschenkelknochen“.

Die jungen Menschen waren über diese Antwort vermutlich ebenso erstaunt wie ich. Ein Kochgefäß oder eine Waffe zum Jagen, wäre für mich naheliegend gewesen.

Was aber hat ein verheilter Oberschenkelknochen mit dem Beginn der Zivilisation zu tun? So einen Knochen, mehrere Tausend Jahren alt, haben Archäologen gefunden. Und sie haben festgestellt: Dieser Oberschenkelknochen muss irgendwann durch einen Sturz oder was auch immer gebrochen sein und ist wieder verheilt.

Margret Mead begründet ihre These folgendermaßen: Um so einen Bruch überleben zu können, muss jemand dagewesen sein, der sich gekümmert hat. Ein anderer Mensch, der den Bruch geschient hat und den Verletzten mit Essen und Trinken versorgt hat. Der einfach dageblieben ist, damit er in Ruhe gesund werden konnte. Jedes Tier in derselben Situation, wäre unter seinesgleichen vermutlich jämmerlich gestorben.

Diese Erklärung finde ich einleuchtend und anrührend zugleich. Denn, was damals galt, gilt auch für heute. Damit die Menschheit das Prädikat zivilisiert verdient und menschenwürdig überleben kann, braucht es mehr als „schneller, höher, weiter“, High Tech und KI. Was es mehr denn je braucht sind Menschen, die sich umeinander kümmern. Die einander nicht gleichgültig sind – gerade in einer Zeit, in der viele einsam sind

Dazu passt, worüber der österreichische Autor, Chansonnier und Schauspieler André Heller vor ein paar Jahren nachgedacht hat. In einer engagierten Rede hat er eine neue „Weltmuttersprache“ gefordert. Eine Sprache, die im Grunde jeder Mensch sprechen oder einüben kann. Und diese Weltmuttersprache sei und müsse Mitgefühl sein. Das berührt mich und spricht mich sehr an. Denn dabei geht es nicht um Gefühlsduselei. Mitgefühl meint mehr. Echtes Mitgefühl ermöglicht mir, in jedem Menschen mich selbst zu erkennen und mit ihm verbunden zu sein. Liebevoll auf ihn oder sie zu schauen – und da wo es nottut, zu helfen.

 

Geschichte vom verheilten Oberschenkelknochen stammt aus: Annabelle Hirsch, „Die Dinge. Eine Geschichte der Frauen in 100 Objekten“, 2022 Kein&Aber AG, Zürich-Berlin, gefunden in „Der Andere Advent, 2024/2025

Mahn-Rede von André Heller war zum 80. Jahrestag des „Anschlusses Österreichs an Nazi-Deutschland 2018 in Wien.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=42119
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