SWR Kultur Wort zum Tag
Italien im Mai. Die Sonne lacht vom Himmel, es ist wunderbar warm. Wir machen Urlaub am Strand in Ligurien. Kinder laufen lachend ins Wasser, die Eltern plaudern unter ihren Sonnenschirmen. Zwei italienische Teenager schreiten im vollen Bewusstsein ihrer Schönheit in die leichten Wellen hinein. Nichts trübt die heitere Stimmung. Nur dieser Taucher in seinem Neoprenanzug, mit Taucherflasche und Schwimmflossen passt nicht so ganz ins Bild. Neugierig schaue ich ihm zu, wie er mit einem großen Spritzer unter der Wasseroberfläche verschwindet.
Als er wieder auftaucht, gehe ich zu ihm hin und wir kommen ins Gespräch. „Sie müssen das auch mal ausprobieren mit dem Tauchen“, sagt er. „Denn da unten auf dem Meeresboden wartet jemand ganz Besonderes auf Sie: Da wartet der ‚Christus der Abgründe.‘“
Ich bin verblüfft. „Christus auf dem Meeresboden?“, frage ich. „Was meinen Sie denn damit?“ Der Taucher erzählt: „Vor 70 Jahren ist hier bei einem Tauchunfall ein Mann ums Leben gekommen. Alle standen unter Schock. Da kam Guido Galetti, ein Künstler aus der Gegend, mit einer faszinierenden Idee: ‚Ich stelle dem Verunglückten Christus zur Seite. Und mache dazu eine Statue – eine Christus-Statue.‘ Dafür hat Galetti Bronze gesammelt: aus Schiffsschrauben und aus Kirchenglocken. Als er genug Material zusammenhatte, hat er das alles eingeschmolzen und daraus seine Christus-Figur geschaffen. Zweieinhalb Meter groß, größer als ein Mensch. Um zu zeigen, dass Christus größer ist als wir mit all unseren Sorgen und Nöten.“
Der Taucher fährt fort: „Ich mag diese Figur. Immer wieder gehe ich hier runter, Meter um Meter. Langsam wird es immer dunkler. Ich tauche herab in die Abgründe dieser Bucht, und auf einmal sehe ich ihn da stehen: Christus, zweieinhalb Meter hoch, in Bronze gegossen. Mit erhobenen Armen, um alle zu segnen. - Ja“, sagt der Taucher, „das müssen Sie unbedingt mit eigenen Augen sehen! Machen Sie auch mal einen Tauchkurs!“
Mitten im Frühling hat sich zwischen Sonne, Strand und Wellen ein Abgrund aufgetan. Ich merke wieder: Die Abgründe des Lebens sind oft ganz nah. Die äußeren und auch die inneren. Sie beginnen direkt unter den schönsten Oberflächen und an den wunderbarsten Orten. Doch gerade da, in diesen Dunkelheiten, wartet der Christus der Abgründe auf mich. Überlebensgroß und mit ausgebreiteten Armen. Wie um mir zu sagen: „Auch in der tiefsten Tiefe bist Du nicht allein. In jeder Tiefe bin ich bei Dir und segne Dich.“
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