SWR Kultur Wort zum Tag
Es ist kurz nach halb acht. In fünf Minuten beginnt die erste Stunde. Lisa muss in ihre achte Klasse. Aber zuerst geht sie noch auf die Schultoilette. Einmal noch einen Moment Ruhe, bevor der Unterricht anfängt. Sie schließt sich in einer Kabine ein und setzt sich auf den heruntergeklappten Deckel der Toilette. Holt ihr kleines Schminkset. Klappt den Minispiegel hoch und schüttelt den Kopf: „Oh Mann – ich seh ja total fertig aus. So kann ich doch nicht ins Klassenzimmer. Was da die anderen sagen?“ Sie seufzt und holt den Concealer raus. Erst mal alles abdecken. So geht‘s vielleicht.
Am Abend desselben Tages, kurz vor neun: Lisas Mutter geht den Flur entlang, hinein ins Wohnzimmer. Sie ist erschöpft und setzt sich in den Sessel. Früher war sie um diese Zeit noch nicht so müde. „Was für ein verrückter Tag. War der Job früher auch so anstrengend? Ja, es hat sich viel verändert in meinem Beruf. Ich habe so viel Verantwortung! Wie lange kann ich den Anforderungen noch genügen?“
Lisa und ihre Mutter sind zwei von vielen. Manchmal sitzen wir alle irgendwo und denken über uns selber nach. Auf heruntergeklappten Toilettendeckeln und auf Sesseln. Auf einem Autositz oder einem Kneipenstuhl. Und fragen uns, ob wir genügen. Bin ich schön genug? Kann ich mithalten? Genüge ich den beruflichen Anforderungen?
Auch ich setze mich manchmal am späten Abend auf den Stuhl in meinem Arbeitszimmer. Denke über den Tag nach und darüber, was ich gut gemacht habe und was nicht. Und wenn zu viele schwarze Gedanken angekrochen kommen, schaue ich auf ein kleines Bild, das auf meinem Schreibtisch steht. Es zeigt einen Mann mit langem Bart, der auch auf einem Stuhl sitzt. Die rechte Hand hat er erhoben und macht eine segnende Geste. Er schaut mich direkt an und lächelt ein wenig. Es ist Jesus Christus, der dort sitzt. Christus auf dem Richterstuhl. Ein uraltes Motiv der Christenheit. Auf diesem Bild lächelt mir der Weltenrichter zu und sagt: „Ich sitze hier auf dem Richterstuhl. Nicht Du. Ich bin es, der Dein Leben beurteilt. Nicht Du selbst. Und mein Urteil fällt milde aus.
Wenn Du Dich auf einen Stuhl setzt und entscheiden willst, ob Du genug bist – dann schmeißt Du mich vom Richterstuhl runter. Denn in Wahrheit sitze ich auf dem Richterstuhl und urteile über Dein Leben. Und ich sage Dir: In meinen Augen bist Du wunderschön. Lass Dich segnen. “
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