Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW
Ich wusste nicht, was ein Ghostworker ist. Jetzt weiß ich’s: Das sind Menschen, die besondere Jobs machen, wichtige Jobs – und dabei unsichtbar bleiben. Wie ein Geist eben, deshalb heißen sie Ghostworkers, Geisterarbeiter.
Heute, am Tag der Arbeit, möchte ich von ihnen erzählen. Die Geisterarbeiter sollen sichtbar werden.
Michelle ist eine von ihnen. Sie hat Informatik studiert und daran mitgearbeitet, dass Chat GPT so groß und so großartig geworden ist. Ich nutze dieses Programm für Künstliche Intelligenz selbst und bin jedes Mal aufs Neue fasziniert, was alles damit möglich ist. Ich bin zum Beispiel nach Straßburg gereist. Und dafür habe ich mir ein komplettes Programm für einen 5-stündigen Besuch samt Restaurant-Tipp ausarbeiten lassen. Was mir bei allen Anfragen an ChatGPT auffällt: Die KI antwortet und reagiert immer freundlich, höflich und respektvoll – egal wie kritisch meine Anfrage ist.
Dafür sorgt unter anderem Michelle. Und damit sind wir auf der Schattenseite der faszinierenden Welt von KI.
Damit Künstliche Intelligenz mir klug antworten kann, muss sie mit riesigen Datenmengen gefüttert werden. Das ist offensichtlich. Damit KI aber keinen Hass verbreitet, nicht diskriminiert oder verletzt, muss man ihr ausdrücklich sagen, was sie nicht darf; sie antwortet nämlich nicht von alleine moralisch angemessen, da braucht es die Arbeit von echten Menschen wie Michelle. Und die sieht so aus: Michelle muss Gewaltvideos sichten, sich Pornografie anschauen, Terrorpropaganda markieren, Texte über Kindesmissbrauch lesen und bewerten. Damit ChatGPT weiß, was es löschen muss. Damit wir damit nicht konfrontiert werden.
Michelle arbeitet in Kenia für weniger als zwei Dollar in der Stunde. Wie es ihr mit dieser Arbeit geht, interessiert niemanden. Ihre Geschichte steht exemplarisch für eine alte Sache und bekannte Strukturen: Sie hat nur einen modernen Namen: Hier geht es um digitalen Kolonialismus, um Ausbeutung. Die Daten und die Arbeit kommen aus dem globalen Süden – Reichtum, Macht und Kontrolle gehen von uns aus dem Norden aus.
Die Entwicklung von KI lässt sich nicht mehr aufhalten. Aber es gibt Möglichkeiten, sich für die Rechte von ghostworkern einzusetzen: Zum Beispiel Vereinigungen wie die Datalabelers unterstützen. Oder politische Vertreter hier in Deutschland auffordern, das Lieferkettengesetz auf digitale Arbeit auszuweiten. Oder zumindest die Begriffe „Ghostworker“ und „digitaler Kolonialismus“ nicht mehr vergessen und davon erzählen.
Digitaler Kolonialismus. Wie Tech-Konzerne und Großmächte die Welt unter sich aufteilen. Ingo Dachwitz/Sven Hilbig, C.H. Beck
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