Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

29APR2025
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Es war in diesen Tagen vor genau 80 Jahren, Anfang Mai 1945. Mein Uropa Paul erlebt mit den Enkeln in einem Dorf in der Nähe von Ulm die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs; er hat sich um die Tochter und deren Kinder gekümmert, weil der Schwiegersohn im Krieg ist. Als er in der Ferne Panzerlärm hört, hofft er, dass es die Amerikaner sind. Aber sicher ist er sich nicht. Deshalb schickt er einen der Enkelsöhne auf den Dachboden und weist ihn an: „Nimm ein weißes Bettlaken und schwenk es aus dem Fenster!“ Es soll ein unmissverständliches Zeichen sein: Wir wollen Frieden, schießt nicht auf unser Haus! Die Panzer kommen näher und rollen durch die Dorfstraße – und mit ihnen der Frieden. Es sind die Amerikaner.

Wenige Tage später ist mein Uropa zum Stammtisch in die Dorfkneipe gegangen. Zum ersten Mal nach sechs Jahren. Als Hitler den Krieg begonnen hatte, war er Gemeinderat. Mit Kriegsbeginn hatte er sein Amt niedergelegt und ist von diesem Tag an nicht mehr beim Stammtisch gewesen. Er und seine Stimme gegen die Nationalsozialisten waren dort nicht erwünscht. Als mein Uropa 1945 zurück ist am Dorf-Stammtisch, haben die anderen ihn gefragt: „Paul, woher hasch Du des gwisst?“

 

Das ist eine Geschichte von vielen, die mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verbunden sind. Ich erzähle sie bewusst heute, am 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers in Dachau durch die US-Armee.

Meine Kinder sind die letzte Generation, die solche Geschichten noch live von Oma und Opa hören. Denn diejenigen, die sie erzählen können, sind mittlerweile weit über 80 Jahre alt. Man kann jetzt die Frage stellen: Ist es heute, so viele Jahrzehnte später, noch notwendig, dass wir Kinder und Jugendliche mit dieser Zeit konfrontieren? Es ist doch alles lang vorbei und sie haben damit nichts zu tun. Für mich ist die Antwort klar: JA! Es ist notwendig und es ist wichtig. Weil wir alle unsere Geschichte kennen müssen, weil wir verstehen müssen, wie alles gekommen ist. Um Verantwortung übernehmen zu können, um gute Entscheidungen für die Zukunft zu treffen.

 

Ich bin mir sicher: Mein Uropa würde uns vor den Populisten warnen, die heute die Katastrophe des Nationalsozialismus verharmlosen und wieder versuchen, Menschen auszugrenzen. Wie damals.
Damit wir dem entgegentreten können, müssen wir uns erinnern, wir müssen wissen, was geschehen ist. Und dazu braucht es Geschichten, Fakten und Erinnerungsorte.

Damit wir und unsere Kinder nicht sagen können: „Mir hams ja net gwusst.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=42042
weiterlesen...