SWR3 Gedanken
Ich besuche meine Freundin Natalie. Nicht kurz auf einen Kaffee, auch nicht mal eben auf ein Abendessen. Um meine alte Schulfreundin Natalie zu besuchen, muss ich eine ganz schön weite Strecke hinter mich bringen. Sie wohnt auf einer kroatischen Insel – auf Vis. Im Winter fährt nur zwei Mal am Tag eine Fähre vom kroatischen Festland hinüber. Es gib dort kein Krankenhaus, keine weiterführende Schule, keinen Therapeuten und nur einmal die Woche kommt eine Ärztin vorbei. Vom einen Ende der Insel bis zum anderen brauchen wir nur 20 Minuten mit dem Auto. Irgendwie ist das krass – meine weltoffene, hippe, sehr kluge Freundin Natalie hat sich ein Nest gebaut, auf einer völlig abgelegenen Insel, mitten in der Pampa. Wenn mir Natalie früher schon von ihrer Insel erzählt hat, dann haben ihre Worte alle Sinn gemacht – aber so richtig verstehen und fassen konnte ich das bisher nicht. Bis ich sie dann erlebe – auf Vis. Sie stellt mir ihre Leute vor – Ronja, die sich auf der Insel verliebt und eine Familie gegründet hat; Pero, der schon immer auf der Insel lebt und uns bunte Fische aus dem Meer holt; oder Anna, die mit Natalie ihr Zuhause teilt und mir mit ihrer tiefen Stimme vorkommt, wie die stärkste Frau der Insel. Alles ist anders hier auf Vis, anders als mein Leben in Stuttgart, mit Familie, ständig offenen Krankenhäusern, Einkaufsläden, Post und geregeltem Job. Auch wenn alles sich anders anfühlt, fühlt sich das mit Natalie und mir nah und vertraut und gut an. Weil sie in ihrem Zuhause eben nicht das gesucht hat, was andere glücklich macht, sondern sie. Sie ist mehr sie selbst als jemals zuvor.
Natalie ist in ein anderes Land gereist, um ihr Zuhause zu finden. Den Rucksack mit den ganzen Konventionen, Komfort und Sicherheiten hat sie zu Hause gelassen. Und so lebt sie nun, selbstbestimmt, selbstständig und vor allem: glücklich.
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