SWR Kultur Wort zum Tag
Der Eindruck, wir lebten in einer unübersichtlichen, komplexen Welt, ist weit verbreitet. Und nicht nur ich habe das Gefühl, dass sie ständig noch unübersichtlicher wird. Marco Wehr, Physiker und Philosoph, hat ein Buch darüber geschrieben mit dem Titel „Komplexe neue Welt und wie wir lernen, damit klarzukommen“, Darin schreibt er, dass die Welt wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte zu „einem verwickelten Knäuel des Komplexen“ geworden sei. Ich meine, dass Christinnen und Christen, Menschen der Kirche, diese Herausforderung, annehmen sollten. Sie glauben an einen Gott und an eine Botschaft, die zuversichtlich macht, die Angst besiegt. Vielen Menschen macht es nämlich Angst, wenn sie das Gefühl haben, dass ihnen all diese komplexen Zusammenhänge entgleiten, sie verwirren und ins Chaos stürzen. Entfremdung ist die Folge und das Gefühl, überall wird nur gemauschelt und werden Tatsachen verdreht. Eindeutige Erklärungen müssen her und die finden viele dann in den sogenannten Verschwörungstheorien, die eigentlich Verschwörungs-Erzählungen sind. Was sich irgendwie, wenn auch noch so abenteuerlich, erklären lässt, scheint ihnen weniger bedrohlich und sie meinen, es dann eher handhaben zu können.
Das Problem an diesen Erzählungen ist nicht nur, dass sie der komplexen Realität nicht gerecht werden, Menschen sich damit also meist in die Tasche lügen, sondern vor allem auch, dass sie die Gesellschaft spalten. Sie fördern Misstrauen, und zwar meist gegen Randgruppen, die ohnehin schon unter Diskriminierung zu leiden haben. Wenn aber mit Schaum vor dem Mund Sündenböcke gesucht werden, kann das mir als Christ nicht egal sein.
Wenn der Glaube ein Mittel gegen Verschwörungserzählung sein kann, dann vor allem weil wir als Christen Teil von Gemeinschaften sind, die uns Halt geben, den Austausch fördern und uns ermutigen, verschiedene Sichtweisen zuzulassen und nebeneinander auszuhalten. Grundlage ist der gemeinsame Glaube an einen liebevollen Gott, der uns Menschen Gutes möchte. Er lässt hoffen und gibt Zuversicht. So kann wachsen, was ich ‚Komplexitätstoleranz‘ nennen möchte: Die Fähigkeit, auszuhalten, dass es eben schwieriger wird, die globalen Zusammenhänge zu durchschauen – und das in einer Welt, die immer mehr zusammenwächst. Christen sollten diese Haltung einüben – für eine offene und tolerante Gesellschaft. Statt über den Rückzug des Glaubens zu lamentieren, hätten die Kirchen hier eine neue, lohnende Aufgabe.
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