SWR Kultur Wort zum Tag
Seufzen gehört bei uns zum Programm. Jeden Donnerstagabend treffen wir uns. Es beginnt mit einfachen Übungen, Arme und Beine abklopfen, sich strecken und dehnen in alle Richtungen, den Körper bis in die Finger- und Zehenspitzen mit Luft versorgen, die Stimme lockern. Und irgendwann ist es dann so weit. „Lasst es raus“, sagt unser Chorleiter. Und dann seufzen wir. In den höchsten Tönen. Laut und hemmungslos. Es fühlt sich großartig an. Und für mich ist es jedes Mal viel mehr als eine Übung vor dem Singen. Denn mit jedem Seufzer kann ich wirklich etwas abgeben von dem, was mich belastet, loswerden, was sich im Lauf einer Woche an Verzagtheit und Frust angesammelt hat. Ich lasse es raus in diesem Augenblick und mir wird dabei ganz leicht ums Herz. Erlöst, vergnügt, befreit. Ich brauche diese wöchentliche Übung, denn in meinem Alltag haben Seufzer keinen Platz. Da soll ich mich ja beherrschen. Die Sprache verrät es. Sie sagt: „Mir ist ein Seufzer entfahren“, als ob das etwas Unanständiges wäre und bitte schön unbedingt zu vermeiden! Öffentliches Seufzen ist peinlich. Schon Paulus hat das beobachtet. Im Römerbrief schreibt er: Wir seufzen und stöhnen in unserm Innern. Leise, für uns. Alles fressen wir in uns hinein. Die vielen unterdrückten Seufzer brocken sich dann zusammen und bilden dicke Klumpen im Hals und im Magen. Was immer nur unterdrückt wird, drückt. Deshalb rät Paulus: „Erstickt nicht an Eurem Schmerz. Lasst den Druck raus.“ Genau das tue ich mit meinen lauten Seufzern im Chor. Wer nicht in einem Chor singt und im Seufzen noch ungeübt ist, kann sich anders helfen. Ich empfehle dafür das Evangelische Gesangbuch. Es bietet wunderbare kleine Übungen. Seufzen für Anfänger. Sie müssen nur einmal das Inhaltsverzeichnis aufschlagen beim Buchstaben A. Gleich neun Lieder zur Auswahl. Alle beginnen mit einem Seufzer: „Ach!“ Zum Beispiel: „Ach bleib mit deiner Treue bei uns, mein Herr und Gott. Beständigkeit verleihe, hilf uns aus aller Not.“ Irgendwann geht es dann auch ohne Buch. Denn Seufzen braucht keine Sprache, keine ausformulierten Sätze. Nur einen tiefen Atemzug. Und den Mut, für einen Moment etwas lauter zu werden. Sich öffnen für einen Ton voller Gefühl, ganz tief von innen heraus. Morgen ist wieder Donnerstag: Chor-Tag. Da seufzen wir uns wieder die dicken Klumpen von der Seele. Bis uns ganz leicht wird ums Herz.
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