SWR4 Abendgedanken
„Krankheit ist der Schlüssel zu vielen Türen, die uns sonst verschlossen bleiben.". Dieser Satz stammt von dem französischen Schriftsteller und Nobelpreisträger André Gide.
Seit ich ihn das erste Mal gehört habe, beschäftigt mich dieser Satz. Krankheit als Schlüssel zu Türen, die sonst verschlossen bleiben? Für mich ist Krankheit etwas Negatives. Ich hoffe, ich bleibe davon verschont. Eine Erkältung, einen Mageninfekt oder ein paar Tage Kopfschmerzen, das ist ja noch in Ordnung. Aber davon redet André Gide nicht. Er meint wirklich schlimme, manchmal unheilbare Krankheiten, die das Leben aus der Bahn werfen können. Aus Gesprächen mit Betroffenen weiß ich: Wenn so etwas geschieht, dann ist das Leben plötzlich ganz anders als vorher. Dann gibt es oft ein Vorher und ein Nachher im Leben. Bevor die Schmerzen kamen, bevor der Krebs entdeckt wurde, bevor der Herzinfarkt geschah und danach. Danach dreht sich das Leben plötzlich überwiegend um die Krankheit. Immer wieder gibt es Arztbesuche, Klinikaufenthalte, Operationen, Medikamente, Rehamaßnahmen. Das ganze Leben steht unter einem anderen Vorzeichen und ist nicht mehr so unbeschwert wie früher.
Und diese Veränderung soll ein Schlüssel sein, meint André Gide. Gibt es da einen Raum, den wir sonst nicht betreten würden? In unserer Gesellschaft geht es meistens darum, Krankheiten schnell wieder verschwinden zu lassen. Krankheiten stören das Leben.
Darum will ich nicht in den Raum der Krankheit eintreten, sondern die Tür schön zuhalten. Aber das ist eine Illusion, meint André Gide. Krankheiten können Schlüssel sein. Schlüssel zur eigenen Seele. Schlüssel zu einem Teil von meinem Leben, der mir bisher verborgen war wie ein verschlossener Raum. Vielleicht verstehe ich mich und mein Leben durch die Krankheit vielleicht besser. Vielleicht hilft es mir, dankbarer zu sein für all die kleinen guten Dinge, die ich früher nie geschätzt habe. Vielleicht ist es ein Anlass, um mich mit Menschen auszusöhnen, mit denen ich im Unfrieden lebe. Und so mancher hat erzählt, dass er in der Zeit der Krankheit auch den Glauben an Gott neu gefunden hat. Und so können Krankheiten sogar Türen zu Gott öffnen - zu dem, in dessen Hand mein ganzes Leben liegt.
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