SWR4 Abendgedanken

11MRZ2025
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Es gibt Momente, da fühlt man sich wieder wie ein Kind. So einen Moment habe ich vor kurzem erlebt. Johanna hat mich gefragt: „Willst du in mein Freundebuch schreiben?“. Und da hatte meine Freundin das gute Stück auch schon aus ihrer Tasche gezaubert und mir in die Hände gedrückt. Fast genauso wie früher sieht es aus. Ein ziemlich dickes Ringbuch im Querformat. Auf der Titelseite prangt in großen goldenen Lettern das Wort „Freundebuch“. Ich blättere gleich durch die Seiten und sehe: Schon einige haben sich darin verewigt.

Zu Hause hab ich erst mal in dem Buch geschmökert. Ich kenne zwar nicht alle, die drinstehen, aber es packt mich. Nathalie zum Beispiel schwärmt von ihrer Vietnamreise und Ben träumt davon einen Flickflack zu können. Auch das fühlt sich an wie früher. Wie ich schier nicht aufhören kann, zu lesen. Aber dann klappe ich das Buch wieder zu, meine Seite kann ich auch später noch ausfüllen. Immer wieder hab‘ ich mich selbst beschworen und mir gesagt: „Heute setzt du dich hin und füllst deine Seiten aus.“ Und dann habe ich es doch wieder nicht gemacht.

Als Kind war das einfacher. Ich wusste: Meine Lieblingsfarbe ist rot, ich möchte Tierärztin werden und Bibi und Tina sind meine absoluten Superheldinnen. Heute muss ich ganz andere Antworten finden. Zum Beispiel auf die Fragen: „Was ist dein größter unerfüllter Wunsch?“, „In welche Schublade stecken dich andere?“, oder „Wann hast du das letzte Mal Tränen gelacht?“ Das Freundebuch hat mich fast schon angeschrien: „Denk mal über dich und dein Leben nach!“  Und deshalb habe ich es wahrscheinlich auch so lange vor mir hergeschoben. Sich bewusst mit dem eigenen Leben zu beschäftigen, ist anstrengend.

Irgendwann habe ich mir dann doch einen Ruck gegeben und mich drangesetzt. Und dann hat es mir sogar richtig Spaß gemacht. Ich konnte in Ruhe überlegen: Was ist denn eigentlich gerade ein Wunsch von mir? Oder an welchem Ort bin ich so richtig glücklich? Das Freundebuch von Johanna hat mich nicht nur in meine Kindheit zurückversetzt, sondern mich auch wieder direkt ins heute geholt. Es war der Anstoß, den ich gebraucht hab, um endlich mal wieder meinen Träumen nachzujagen und das zu machen, wofür mein Herz schlägt. Und vielleicht kann ich damit sogar heute Abend schon beginnen. Ein kleiner erster Schritt für meine Träume, und zwar nicht die aus der Zeit als ich ein Kind war, sondern meine Träume von hier und heute.

Clarissa Wolk aus Mannheim von der katholischen Kirche

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