Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW
In den Wochen vor der Bundestagswahl hätte man denken können, dass die Demokratie für viele Christinnen und Christen die gottgegebene Staatsform sei. Kirchen standen öffentlich für Demokratie und Menschenwürde ein und machten kräftig Werbung, zur Wahl zu gehen. . Dabei ist es eigentlich fast überflüssig zu sagen, dass die Kirche lange Zeit ohne Demokratie ausgekommen ist. Und genauso wie Christen heute für die Demokratie eintreten, war es für sie lange Zeit selbstverständlich, in einer Monarchie zu leben.
So wie ich das sehe, gibt es keine „gottgegebene“ Staatsform. Trotzdem gibt es Formen, die ich als Christ für falsch halte. Es ist falsch, wenn irgendeine Staatsform meinen Glauben nicht zulässt. Schon zur Zeit der Reformation war klar, dass die staatliche Ordnung für Christinnen und Christen eine Sache sicherstellen muss: dass das Evangelium verkündet werden kann. Das ist noch nie so gut gelungen, wie in unserer Demokratie. Wir können in der Kirche mit großer Freiheit das Evangelium predigen und auch ganz praktisch umsetzen: Christen (und auch andere Religionen) können ohne staatliche Eingriffe Gottesdienste feiern, Gemeindearbeit betreiben und den Glauben öffentlich leben. Das ist wertvoll. Und weil ich als Christ an einen Gott der Liebe und Gerechtigkeit glaube, bin ich froh, dass in unserer Demokratie jeder das glauben kann, was er für richtig hält.
Bisher haben wir keine andere Staatsform gefunden, die es den Menschen ermöglicht, so frei und gleich zusammenzuleben wie in einer Demokratie. Sie ist eine Errungenschaft der Menschheit, aber eben auch genau das: ein Menschenwerk. Auch demokratische Systeme bergen Ungerechtigkeiten. Zum Beispiel werden Mehrheitsentscheide getroffen, die immer eine Minderheit unberücksichtigt lassen. Die Demokratie ist anfällig für Populismus und trotz aller Beteuerungen gibt es auch in der Demokratie Menschen, die mehr Macht haben.
Die Rolle der Kirche und der Christinnen und Christen muss darum – egal in welcher Staatsform – immer eine prophetische sein. Mit dem Blick darauf, wo Menschen durch die Politik benachteiligt werden, wo Unrecht besteht, wo es Widerstand braucht. Der Auftrag an Christinnen und Christen ist die Förderung von Gerechtigkeit, die Wahrung der Menschenwürde und die Schaffung von Bedingungen, die den Glauben an Christus und das Leben in seinem Namen unterstützen. Ich bin der Überzeugung, dass die Demokratie dafür eine gute Grundlage bildet und darum auch von Christinnen und Christen gefördert, unterstützt und verteidigt werden muss. Aber nicht zum Selbstzweck, sondern für das, was sie ermöglicht.
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