Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW
Manches wird tatsächlich besser – man sollte es kaum glauben. Über viele Jahre ist die Anzahl der hungernden Menschen gesunken. Die letzten 80 Jahre waren friedlicher als alle Epochen davor. Es gibt mehr Menschen, die gesund sind, als Menschen die schwer krank sind. Betrachtet man nur diese Zahlen, könnte man meinen, dass wir gerade auf der besten Erde aller Zeiten leben. Allerdings weiß ich, dass ich mir da etwas vormachen würde. Obwohl ich manchmal denke: Müsste das nicht so sein? Schließlich gibt es heute mehr Christinnen und Christen als je zuvor. Und sie alle berufen sich auf Jesus, der das Himmelreich Gottes verkündet hat – ein Reich, das schon vor 2000 Jahren begonnen haben soll.
Jesus hat dieses Reich mit einem Senfkorn verblichen: klein und unscheinbar, doch mit der Zeit wächst daraus ein großer Baum. Die Nachricht vom sinkenden Hunger macht Hoffnung. Auch die Erkenntnis, dass die Welt in den letzten 80 Jahren so friedlich war wie nie zuvor. Die Versuchung liegt nahe, die Menschheitsgeschichte als eine stetige Fortschrittsgeschichte zu sehen. (Viele haben es so gedeutet. Alles wird besser.)
Doch dann lese ich von der Weltuntergangsuhr: 89 Sekunden vor Mitternacht – so nah am Abgrund wie nie zuvor. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs waren es einmal 17 Minuten bis zum Weltuntergang. Und ich lese, dass Gewalt und Krieg weltweit wieder zunehmen. Genauso seit einigen Jahren auch der Hunger und die Unterernährung. Wo ist da noch Raum für das Himmelreich? Die Welt scheint eher auf Messers Schneide zu stehen.
"Das Reich Gottes ist schon mitten unter euch", sagte Jesus. Aber das bedeutet nicht, dass ein politisches System es errichten könnte. Es ist kein Aufruf, mit Gewalt oder Politik das Reich Gottes aufzubauen.
Ich glaube, dieses Reich ist viel unscheinbarer. Es zeigt sich in Beziehungen: in guten Freundschaften. In der Verbindung zwischen einer Mutter, die ihre Kinder großgezogen hat und nun von ihnen gepflegt wird, im älteren Herrn, der sich im Besuchsdienst um einsame Menschen kümmert und dadurch selbst weniger einsam ist. In der Sozialarbeiterin, die trotz aller Rückschläge die Hoffnung für abgehängte Jugendliche nicht aufgibt. Das Reich Gottes zeigt sich in solchen Momenten der Menschlichkeit.
Und doch bleibt da auch die Sehnsucht. Neben dem "Das Reich Gottes ist mitten unter euch" steht in der Bibel auch "Dein Reich komme" – Worte aus dem Gebet, das viele Christinnen und Christen jeden Sonntag sprechen. Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit, nach Frieden, nach einem Ende der Kriege bleibt bestehen. Sie steht neben den vielen kleinen Senfkörnern, die überall auf der Welt keimen. Wir sind noch nicht am Ziel. Aber jedes Senfkorn, das austreibt, trägt die Hoffnung, dass das Reich Gottes eines Tages Wirklichkeit werden kann.
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