SWR1 3vor8
Es ist zum Verzweifeln: Da ist dieser sympathische junge Mann; ich kenne ihn vom Kinder- und Jugendzirkus, wo er eine inklusive Gruppe junger Artisten trainiert hat. Bei seiner Hochzeit im letzten Sommer haben sie vor der Kirche Spalier gestanden. Im Herbst fiel das Training oft aus; er war im Krankenhaus. Krebs, hieß es, und jetzt die Todesanzeige in der Lokalzeitung. Er wurde nur 34 Jahre alt.
Ja, es ist zum Verzweifeln: Da sitzt dieser alte Herr in seiner überdimensionierten Villa am Hang. Jeder weiß, wie er dazu gekommen ist. Wie er den Bauern im Dorf für n Appel und n Ei ihre wertlosen Grundstücke abgekauft hat. Und dann den Gemeinderat erpresst hat, der das ganze Flurstück zum Bauland umgewidmet hat. Heute gibt es keinen einzigen Bauern mehr im Ort. Aber der alte Herr hat gerade mit viel Tamtam seinen 95. Geburtstag gefeiert.
Ja, es ist zum Verzweifeln, denn jeder von uns kann wohl solche Geschichten erzählen, in denen die Guten untergehen und die Schlechten triumphieren. Und wer verzweifelt ist, dem ist auch schnell alles egal: Wozu gesund leben? Krank werden kann ich trotzdem. Rücksicht nehmen? Warum, wenn die Gauner und Betrüger dieser Welt mit allem davonkommen? Solche Gedanken kennt auch der Mensch, der in der Bibel „Kohelet“ genannt wird. Er hat auch schon viel gesehen in seinem Leben. Aber er verzweifelt nicht. Er sieht sich die Welt an und zieht seine eigenen, nüchternen Schlüsse. Die einen haben was davon, anständig zu leben, aber eine Glücksgarantie gibt es nicht. Sein Rat: Engagiere dich nicht über die Maßen und stich nicht durch Klugheit hervor. Handle aber auch nicht allzu mies und stell dich nicht dümmer als du bist. Am besten fährst du in der Mitte; da fällst du dem lieben Gott und auch sonst keinem auf, weder im Guten noch im Schlechten.
Das ist schon sehr gewitzt, finde ich, und hilft vielleicht durch unsere Zeit, in der einem der Glaube an Gut und Böse schon mal gründlich vergehen kann. Halte Maß, höre ich heraus. Sieh zu, dass Du ordentlich durchs Leben kommst. Nimm den goldenen Mittelweg. Übertreibe es nicht mit Deiner Suche nach Sinn und Gerechtigkeit – lass Dir aber auch nicht alles egal sein. Und Kohelet verspricht: Wer das beherzigt, dem wird es gelingen!
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