Anstöße SWR1 RP / Morgengedanken SWR4 RP
Sie sitzen nebeneinander in zwei Sesseln mir gegenüber. Solche Sessel, die man per Knopfdruck hoch- und runterfahren kann. Ich hab‘ die beiden schon ein paarmal besucht und wie immer zeigt mir Lydia die Fotos an der Wand. Ihr Finger zeigt durch die Luft, damit ich weiß, welches Bild sie meint. Dazu formt sie Worte, weil sie erzählt, wer auf den Fotos ist. Ich verstehe sie nicht, sie spricht undeutlich und verwaschen. Lydia hatte vor einigen Wochen einen Schlaganfall und die Sprache kommt nur langsam zurück. Theo sitzt neben ihr.
Er sagt: Das sind unsere Enkel als sie noch klein waren. Als wir zusammen an der Nordsee waren. Lydia nickt, aber dann hebt sie ihren Zeigefinger korrigierend hin und her: „Nä, nä.“ „Ach so, Ostsee, stimmt“, sagt Theo.
Lydia spricht weiter. Theo hört zu wie ich. Diesmal guckt er fragend: „Ich weiß nicht, was du sagen willst.“ Sie versucht es nochmal, wird lauter. Theo versucht es, aber schon geht der Zeigefinger hoch: „Nä, nä“.
Theo sagt mit einem Schmunzeln: „Manchmal, wenn sie was Kompliziertes erklären will, dann fährt sie sich richtig fest.“ Ich lache, weil er das so sagt: Sie fährt sich richtig fest. Und Lydia lacht auch. Sie lacht so sehr, dass ihr die Tränen kommen.
„Liebe ist, wenn er meine Sätze zu Ende spricht“ – Sie kennen vielleicht diese „Liebe ist…“-Zeichnungen, die früher in der Tageszeitung waren. Wie kleine Mini-Definitionen. Keine kann vollständig sein, denn wer kann schon Liebe definieren? Theo spricht Lydias Sätze zu Ende. Dabei hat er offenbar einen Ton gefunden, dass sie sich nicht bevormundet fühlt. Wie viele Tage mag es geben, an denen sie nicht lacht, sondern darüber flucht, dass sie keinen klaren Satz mehr rausbringt. Wie viele Tage mag es geben, an denen ihm kein lockerer Spruch einfällt wie „Manchmal fährt sie sich richtig fest“.
„Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“, sagen diese klugen Leute, die die Bibel geschrieben haben. Auch so ein kurzer Satz, fast banal, der erst dann leuchtet, wenn wir zum Beispiel auf Lydia und Theo schauen. Oder auf uns selbst und die Menschen, denen wir gestatten, dass sie unsere Sätze zu Ende sprechen.
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