SWR1 Anstöße sonn- und feiertags

09FEB2025
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Ich hab mich mit meiner Frau gestritten. Der Kopf raucht und ich brauch frische Luft. Und nen Schokoriegel. Der Supermarkt ist gleich um die Ecke. An der Kasse sehe ich den alten Mann das erste Mal. Es fällt ihm schwer, seinen Einkauf zu verstauen. Die Kassiererin hilft ihm.

Ich gehe eine Runde um den Supermarkt. Mein Blick wandert ziellos umher. Bis er wieder an dem alten Mann von der Kasse hängen bleibt. Er steht auf dem Parkplatz. Irgendwie wirkt er, als wäre er auf der Suche. Genau wie ich. Den Faden verloren, orientierungslos, einsam.

Ich spreche den alten Mann an. Er weiß, dass er im Pflegeheim wohnt. Aber er weiß den Namen des Pflegeheims nicht mehr. „Ziegelhof?“, mutmaße ich. „Ja, Ziegelhof.“ Die Erleichterung ist deutlich zu spüren.

Es ist sehr kalt und windig. Trotz meiner Winterjacke friere ich. Der alte Mann hat nur Hausschuhe an. Nicht mal eine Jacke trägt er. Ich begleite den Mann auf seinem Weg nach Hause. Mehrmals biete ich ihm meine Jacke an. Er will sie nicht. Das akzeptiere ich schließlich.

Zu Hause angekommen fragt der Mann mich nach meiner Motivation. „Jesus“, sage ich. „Da ist ein Gott, der uns liebt. Und ich glaube, dass wir deshalb auch füreinander da sein sollten.“ Das ist für mich keine Floskel, sondern tiefer Inhalt meines Glaubens.

Jesus wird einmal gefragt, worauf es im Leben wirklich ankommt. Und er lässt sein Gegenüber selbst die Antwort finden. »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben.«
Und: »Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst.«
„Ja“, sagt Jesus, „lebe so und du wirst ewig leben.“

Doch das Gegenüber von Jesus ist nicht zufrieden. Er will wissen: „Wer ist denn mein Mitmensch?“ Daraufhin erzählt Jesus die Geschichte vom barmherzigen Samariter. Da ist ein Mensch, der von Räubern überfallen wird. Die Räuber schlagen ihn zusammen, rauben ihn aus und lassen ihn dann halbtot liegen.

Mehrere potenzielle Helfer kommen vorbei. Die Unwahrscheinlichste aller Figuren der Geschichte hilft ihm. Und Obacht: Es ist nicht einer der Frommen. Der damals unbeliebte Samariter hilft - umfassend und ohne Hintergedanken. Einfach, weil dieser Mensch ein Mitmensch ist.

So definiert Jesus Nächstenliebe. Spontan. Umfassend. Über Grenzen hinweg. Für alle, die es gerade brauchen. Margot Friedländer sagt es so: „Seid Menschen.“ Jesus gefällt das.

Auf meinem Heimweg vom Pflegeheim denke ich:
War das gerade nicht ziemlich viel Leben? Zwei unvollkommene Menschen gehen stolpernd ein paar Schritte des Weges gemeinsam und geben sich gegenseitig Halt. Mein Ärger ist verraucht und der alte Mann ist wieder zu Hause. Das reicht.

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