SWR3 Gedanken
In Mannheim in der Kunsthalle läuft in diesen Monaten eine Ausstellung: Neue Sachlichkeit. Hier werden Bilder gezeigt, die vor genau hundert Jahren das erste Mal gezeigt wurden. Diese Kunstrichtung war damals eine Revolution. Nach den bunten Farben des Expressionismus geht es hier um einen ganz neuen Blick. Die Wahrheit wollten die Künstler zeigen, die Wahrheit über den 1. Weltkrieg, die Wahrheit über Armut und Krankheit, auch Wahnsinn und Bosheit, die aus dem Irrsinn des Krieges entstanden sind. Wahrheit bedeutet nicht, dass die Bilder wie Fotos aussehen, sondern, dass sie mit schonungslosem Blick das zeigen, was oft verborgen bleibt: die Abgründe des Menschseins und eine Welt, die aus den Fugen geraten ist.
Es sind vor allem die Portraits, die mich anrühren. Augen, die einen direkt ansehen, aus oftmals ausgemergelten Gesichtern. Ein Bild kann ich nicht vergessen. Es ist ein kleiner Junge, vielleicht zehn Jahre alt, der Streichholzverkäufer von Otto Dix. Er steht an einer Säule, der Mantel zu weit, die Ohren zu groß, die Augen riesig im blassen, mageren Gesicht, eine Streichholzschachtel in der müden Hand. Es ist da nichts Romantisches in seiner Armut. Ein kalter, leerer Blick begegnet mir. Kein Kontakt, keine Wärme. Dieser Blick lässt mich nicht los. Ich kenne Menschen, die so hoffnungslos sind, die sich nicht trauen, noch etwas zu hoffen oder sich zu sehnen. Mit solch radikaler Wahrhaftigkeit auf die Menschen zu sehen in ihrer Not, war damals revolutionär, aber heute noch wenden wir den Blick lieber ab.
Ich wünsche mir einen anderen Blick. Einen, der nicht beschönigt und nichts verschweigt. Der aber dennoch verborgene Schönheit wahrnimmt. Ich wünsche mir eine neue Kunst, die Menschen mit einem freundlichen Blick begegnet, einen warmen, zugewandten, offenherzigen Blick. Kunst ist es, Menschen so zu begegnen.
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