SWR3 Gedanken
Es ist nun schon der vierte Obdachlose in diesen Wochen, der mir erzählt, dass er nur mit Glück einen gewalttätigen Angriff überlebt hat. Ich bin gerade jeden Tag als Pfarrerin in der Vesperkirche. Dort begegne ich vielen Obdachlosen. So viele wurden noch nie angegriffen.
Zwei Männer wurden verprügelt, weil sie auf der Straße waren: Bein gebrochen, Knochenbrüche im Gesicht, Prellungen am ganzen Körper. Einem wurde das Zelt über dem Kopf angezündet. Er konnte gerade noch so rauskommen, Verbrennungen am Kopf und im Gesicht, Wunden und große Angst, die ihn nun noch schlechter schlafen lässt, das Ergebnis. Einer hat eine Messerattacke nur knapp überlebt. Keiner von ihnen hat Anzeige erstattet. Wenn ich deswegen nachfrage, wehren sie ab. „Da, wo ich gezeltet habe, hätte ich nicht sein dürfen; ich habe die Angreifer auch gar nicht gesehen“, oder: „Ich war schon auch betrunken“ sind die Erklärungen dafür. Eigentlich sagen diese Leute: Ich bin nicht so viel wert, mir glaubt eh keiner. Wenn ich jemand anderen anzeige, könnte man vielleicht mich wegen irgendetwas anderem anzeigen. Besser kein Kontakt mit der Polizei.“
Immer mehr Gewalt geschieht gegen die Schutz- und Wehrlosen. In keiner Statistik tauchen diese Angriffe auf. Kaum jemand merkt, dass sich gerade etwas verändert. Schon seit Jahren gibt es Angriffe gegen Wohnsitzlose, gegen die Ungeborgenen, die in Tiefgaragen, unter Brücken oder in Baustellen leben. Gewalt, die sich widerspiegelt in den öffentlichen Diskursen. Wenn über sie gesprochen wird, dann mit Verachtung und Hass oder Gleichgültigkeit. Als wären sie schuld, nicht nur an ihren eigenen Problemen. Als hätten Menschen, die arm sind, keine Rechte.
Bald sind Wahlen. Für mich ist die Frage, wie Politiker über Menschen in Armut reden, ein Entscheidungskriterium. Ich hoffe, für viele andere Menschen, die wählen gehen, auch!
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