SWR4 Abendgedanken

31JAN2025
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„Warum bloß habe ich das nicht schon früher gemacht?“ sagte die alte Frau. Dieses Gespräch liegt einige Jahre zurück, aber ich werde es nie vergessen.  Sie hat mir erzählt, dass sie endlich den Mut hatte zu einer speziellen Traumatherapie. Und trotz ihres Alters hat sie diese Therapie versucht. Danach hat sie sich so viel leichter und glücklicher gefühlt. „Zum ersten Mal in meinem Leben“ sagte sie. Und noch einmal: „Warum bloß habe ich das nicht schon früher gemacht?“

Ach, was sollte ich darauf sagen? Sie hat eine Menge unternommen in ihrem langen Leben, um die Gespenster ihrer Kinderjahre loszuwerden. Schlimme Erfahrungen in der Familie, die sich eingebrannt haben in ihre Seele und ihre Erinnerungen. Und vieles von den Hilfen, die sie sich gesucht hat, hat ihr auch geholfen. Sie hat sich weiterentwickelt, weitergesucht, aber trotzdem auch weitergelitten. Sie war eine fromme Frau, und ihr Glaube hat ihr auch sehr geholfen. Immer. Und trotzdem blieben da quälende Erinnerungen an diese frühen Verletzungen. Auch als ältere Frau konnten die ihr ganz überraschend immer wieder den Boden unter den Füßen wegreißen.

Aber dann hörte sie von neueren Methoden der Therapie traumatischer Erfahrungen. Sie hat den Mut gehabt, sich noch einmal eine Therapeutin zu suchen. Sie hat den Mut gehabt, sich noch einmal mit ihrer Seele und ihrem Leben auseinanderzusetzen. Und da ist auf einmal ein ganz neues Lebensgefühl entstanden. Weil sie in der Therapie geübt hat, wie sie besser mit den Gespenstern in ihrer Seele umgehen kann. Von da an fühlte sie sich wohler. Und freier. 

Und man konnte es sehen in ihrem Gesicht, in den Augen, in der Körperhaltung. Diese Entwicklung mitzuerleben war auch für mich wie Weihnachten und Ostern zusammen. Ich kann es nicht anders ausdrücken. Inzwischen ist diese Frau verstorben. Aber ich hüte ein Geschenk von ihr, eine kleine Figur, die mir kostbar ist. Die erinnert mich an diese Frau. Und sie erinnert mich daran, dass es nie zu spät ist, sich mit den Abgründen in der eigenen Seele auseinanderzusetzen. Mit Gottes Hilfe und der Hilfe fachkundiger Menschen.

Und ganz kindlich denke ich: Auch Gott hatte seine Freude daran, sie so neu zu erleben!

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