Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

16JAN2025
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„Von guten Mächten wunderbar geborgen“. Dieses Lied singe ich gerne auch als Neujahrsgruß. Auch meiner Schwiegermutter habe ich es gerade vorgesungen. Sie ist vor vierzehn Tagen in ein Pflegeheim umgezogen. Mit zunehmender Demenz ist es für meine Schwägerin nämlich immer schwieriger geworden, die 24Stunden/7 Tage-Pflege alleine zu stemmen.

Mein Mann und ich wohnen viele hundert Kilometer weit weg und können den Alltag nur wenig entlasten. Aber ein letztes Weihnachtsfest wollten wir gerne noch zusammen feiern in dem Haus, in dem meine Schwiegermutter fast ihr ganzes Leben verbracht hat: Sie hat dort eine Schneiderwerkstatt betrieben, die eigenen Eltern gepflegt und ihre beiden Kinder großgezogen.

Ich bin erst spät in ihr Leben getreten; da hatte die Demenz schon angefangen. Deshalb hat es mich immer besonders gefreut, dass sie mich bei unseren Besuchen noch lange beim Namen genannt hat: „Martina, wie schön, dass du da bist!“ Viele und vieles andere war aus ihrem Gedächtnis schon lange verschwunden. Nur an zwei traumatische Erlebnisse aus ihrer Kindheit im Krieg hat sie sich immer und immer wieder erinnert und sie uns in stereotyper Art und Weise vorgetragen.

Aber mindestens genauso oft hat sie uns innerhalb einer Stunde gefragt, ob sie uns nicht etwas anbieten könnte, Kaffee kochen, Brote schmieren. Auch in der Demenz hat sich der zugewandte, liebenswürdige, fürsorgliche Mensch gezeigt, der sie ein Leben lang gewesen ist. Das ist jetzt anders geworden. Oft geht ihr Blick ins Leere; die Hände sind unruhig und suchen am Saum ihres Pullovers entlang nach einem Halt. Und sie durchlebt nun auch zunehmend Phasen von Angst und Verzweiflung, fühlt sich bestohlen und bedroht. Beruhigende Worte verfangen schon lange nicht mehr, und was mich besonders schmerzt, ist, dass sie nun auch liebevolle Gesten nicht mehr richtig einordnen kann. Wenn ich ihr behutsam über den Handrücken streichle, schlägt sie die Hand weg, die ihr zu nahegekommen ist. Wie kann ich ihr zeigen, dass sie nicht alleine ist, wenn sie selbst solche elementaren Gesten wie ein Streicheln nicht mehr versteht?

Ich wünsche ihr so sehr, dass sie die guten Mächte spüren kann, von denen sie zweifellos noch immer umgeben ist. 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=41380
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