Anstöße SWR1 RP / Morgengedanken SWR4 RP
Eine Patientin im Krankenhaus hat mir erzählt: „Heute würde ich alles anders machen.“ „Was alles würden Sie anders machen?“, frage ich. „Wissen Sie, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich mich über so daher gesagte Sprüche aufgeregt habe! So Sprüche wie: Die Haare wachsen doch wieder... Oder: Anderen geht‘s doch noch viel schlechter.
Heute würde ich das von vorneherein verhindern. Heute würde ich so eine Art Phrasen-Hitliste erstellen. Und die würde ich allen Freunden und Bekannten in die Hand drücken und sagen: Passt mal gut auf: Alle Sätze, die auf diesem Blatt Papier stehen, werdet Ihr auf gar keinen Fall zu mir sagen.“
„Was stünde denn ganz oben auf Ihrer Phrasen-Hitliste?“ frage ich. „Also, ganz oben stünde: Du bist eine Kämpferin. Du schaffst das. Wer so etwas sagt, möchte sich nicht damit befassen, wie lebensbedrohlich meine Erkrankung ist. Stattdessen versteckt man sich hinter einer Phrase.
Und macht mich dann auch noch dafür verantwortlich, wie die Sache ausgeht:
Du bist doch eine Kämpferin. Es liegt nur an dir...- Und wenn ich sterbe, tja - dann hab ich mich wohl nicht genügend angestrengt...“
„Was stünde denn da noch so auf der Hitliste?“ frage ich. „Oh, ganz weit oben stünde auch: Du musst positiv denken. Also: ich muss überhaupt nichts; und schon gar nicht muss ich mir etwas Schlimmes schönreden. Denn davon geht kein Tumor weg. Was wirklich weggehen soll - das ist meine schlechte Stimmung...“
„Gibt es denn auch eine Hitliste an hilfreichen Tipps?“, frage ich. Sie lehnt sich zurück und überlegt eine Weile. Dann sagt sie:
„Also, was mir hilft ist, das ist das Gefühl, gesehen zu werden. Wenn ich echtes Interesse spüre, an mir und meiner Situation, das hilft mir. Und wenn die Leute anteilnehmend fragen, und dann auch wirklich zuhören.
Ja, und wenn sie auch meine schlechten Gefühle einfach mal so stehenlassen. Wenn man mich so nimmt, wie ich gerade bin, das hilft.“
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