Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW
Angst zu haben, ist menschlich. Jede und jeder kennt das Gefühl, wenn es einem mulmig wird, wenn der Boden unter den Füßen wackelig wird oder einem plötzlich so heiß wird, dass man meint zu platzen. Die Angst ist Teil des Lebens. Wir müssen mit ihr zurechtkommen wie mit Krankheiten oder der Tatsache, dass wir eines Tage sterben müssen.
Allerdings gibt es unterschiedliche Formen der Angst. Eine von ihnen, sagt der Philosoph Jean-Paul Sartre, ist die Angst, unberechtigt auf dieser Welt zu sein. Meine Mutter erzählt einen Satz, den ihre Mutter über sie gesagt hat: „Du hättest halt nicht mehr kommen sollen.“ Was wohl so viel bedeutet wie: Du bist nicht geplant gewesen, nicht ausdrücklich gewollt. Da ist sie dann unüberhörbar, diese Angst, keine Berechtigung für ein Leben zu haben, wenn meine Mutter sich an diesen Satz heute noch erinnert. Sartre fasst diese Angst in ein sprechendes Bild. Er sagt, das ist wie in einem Zug zu sitzen und nach seiner Fahrkarte gefragt zu werden. Wie ein Mensch damit umgeht, mit diesem bodenlosen Gefühl, das entscheidet über sein Leben.
Was, wenn man die Fahrkarte nicht findet? Sozusagen den Schein, der einen zum Leben berechtigt? Was, wenn andere immer die Nase vorne haben und man sich selbst fühlt wie das hässliche kleine Entlein? Wenn Menschen, denen es so geht, Macht bekommen, das kann brandgefährlich werden. Dann kommt unter Umständen ein Prozess in Gang, der unweigerlich zu Gewalt und Krieg führt. Siehe Russland, das sich offenbar als ungeliebtes Kind der Weltgeschichte fühlt, und dem auch wir im Westen dieses Gefühl gegeben haben. Aus Angst entsteht Hass, dann Krieg, und schließlich noch tieferer Hass. Ein fataler Kreislauf.
Echter Glaube könnte einen Ausweg aufzeigen. Für Menschen, die an Gott glauben, ist Gott der Dreh- und Angelpunkt der Welt und ihres Lebens. Kein anderer Mensch könnte das letzte Urteil über sie sprechen. Dass sie leben, verdanken sie Gott. Dass sie da sind, ist sein Wille. Keine Macht auf dieser Welt kann ihnen dieses Lebensrecht absprechen. Tiefgläubige Menschen berichten davon, dass sie irgendwann gespürt haben, vollkommen akzeptiert zu sein, von Gott angenommen zu sein mit Haut und Haaren. Dass ihnen das einen inneren Frieden gegeben hat, den ihnen sonst nichts und niemand geben konnte. Ich fürchte, das ist mir noch nicht passiert. Aber ich wünsche es mir sehr.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41168