SWR1 Begegnungen

Seit drei Jahren genießt Wolf-Dieter Steinmann, der langjährige Rundfunkpfarrer seinen Ruhestand. Jetzt in der Adventszeit könnte die Entspannung sich besonders bemerkbar machen. Aber vor ein paar Wochen ist seine Mutter gestorben. In einem, wie man so sagt, gesegneten Alter. Wie sehr sie ihm fehlt, hat ihn selbst überrascht.
Dieses diesjährige Weihnachten ist mein siebzigstes und das erste ohne meine Mutter. Je älter ich werde, umso mehr spüre ich diese Wurzeln. Die sind nicht so, dass sie mir quasi über 50 Jahre, nachdem ich weg war, meine Lebenskräfte zugespielt hätten. Das nicht, aber ich habe mich in diesem Haus immer sicher gefühlt.
Dieses Elternhaus steht im kurpfälzischen Walldorf. Mitten im Ort auf einem ehemaligen Bauernhof. Der war ein klassischer Rund-um-die-Uhr-Familienbetrieb: Kühe melken, Hühner füttern, Spargel stechen, Tabak aufhängen. Es gab immer was zu schaffen. Auch die drei Kinder mussten selbstverständlich mit anpacken. Und die Mutter?
Sie hatte ihren Selbstversorgergarten, der eine sechsköpfige Familie eine Zeitlang wirklich nahezu autark ernährt hat. Also, es ist nicht ein „Gärtle“ gewesen, das war ein richtiges Teil, und wenn die anderen Mittagspause gemacht haben, war sie im Garten.
Das ganze Leben nichts als Mühe und Arbeit. So steht es schon in der Bibel. Aber es blitzen auch andere Erinnerungsmomente auf. Zum Beispiel die jährlichen Weihnachtsfeste. Plötzlich ein Glanz in der Hütte. Das Christkind, in ein altes Brautkleid gehüllt. Und als der Schwindel aufgeflogen ist, bleibt die Ahnung von göttlichen Geheimnissen. Und die vielen, vielen Weihnachtslieder.
Also ich kann mir Weihnachten nicht vorstellen, ohne dass wirklich heftig gesungen wird. Da bist du endlich nicht mehr dieser Schaffknecht und diese Schaffmagd, sondern da fängt du an … im Singen fängst du an zu fliegen.
Wurzeln und Flügel. Was Eltern ihren Kindern im besten Fall mitgeben sollen, hat Wolf-Dieter tatsächlich erlebt: Gleich nach dem Abitur hat er erst einmal die Flucht ergriffen, raus aus der Welt, in der man nur im Schweiße seines Angesichts sein Brot verdienen konnte. Vom Acker gemacht hat er sich, sagt sein Bruder. Aber er ist auch immer wieder zurückgekommen. Jedes Jahr an Weihnachten. In diesem Fest entdeckt er sogar den Kern der eigenen Frömmigkeit. Als Pfarrer hat er zwar gelernt, dass Ostern das Gründungsdatum des Christentums ist, aber …
… für mich ist es viel lebendiger, an Weihnachten in dieses Kind in der Krippe verliebt zu sein und darin Gott zu sehen und in allem, was neu wird, klein, winzig, verletzlich neu wird, die große Kraft Gott am Wirken zu sehen. Und das auch mit Licht und auch mit einem bisschen Kitsch zu verbinden, das gehört auch dazu.
Licht und Kitsch, jede Menge Weihnachtslieder und verliebt in ein Kind. Als Rundfunkpfarrer hat Wolf-Dieter Steinmann jahrzehntelang vielen Menschen Trost zugesprochen. Nun ist mit 98 Jahren seine Mutter gestorben und er ist überrascht, wie sehr ihn das beutelt. Andererseits:
Das ist die Frau, die sich der Mühe unterzogen hat, mir neun Monate lang ins Leben zu helfen. Ohne sie wäre ich nicht da. Ohne sie hätte ich keine Lebenschance gehabt. Der Anteil der Väter ist marginal.
Dabei war sein Vater zu seinen Lebzeiten für Wolf-Dieter die stärkere Bezugsperson, mit dem ihn sichtbar mehr verbunden hat als mit der Mutter. Aber er ist davon überzeugt, dass Familienbande auch unterschwellig wirken:
Ein Mensch ist keine Insel, aber er ist auch sehr für sich. Das habe ich von meiner Mutter auch gelernt. Vielleicht sind wir so etwas wie eine Inselkette, und dazwischen gibt es eine kontinuierliche Fährverbindung, und man muss nicht immer diese Fähre benutzen. Manchmal steht man auch einfach nur am Hafen und guckt der Fähre zu. Fährt sie noch? Ja, sie fährt noch.
Im letzten Lebensjahr seiner Mutter hat Wolf-Dieter die Fähre wieder häufiger benutzt. Zu Besuchen in Walldorf, wo seine Schwester die tägliche und nächtliche Pflege der Mutter übernommen hat. Er spielt ihr auf dem Klavier vor, schaut mit ihr Sport. Und stellt fest, dass es diese ganz alltäglichen Momente sind, die ihm kostbar werden:
Da habe ich zum ersten Mal meiner Mutter beim Mittagessen geholfen und ihr einen Löffel gereicht. Das war sehr zittrig am Anfang von meiner Seite aus, aber sie hat es völlig selbstverständlich, weil sie das erst mal nicht selber konnte, entgegengenommen. Das war eine unglaublich intensive Erfahrung.
Und nach ihrem Tod? Was glaubt er: Wo ist die verstorbene Mutter jetzt? Trösten die biblischen Bilder? Helfen sie über den Verlust hinweg? Wolf-Dieter Steinmann formuliert vorsichtig:
Ich sehe es nicht wirklich als Bild. Ich würd‘s ihr wünschen, dass das, was der Paul Gerhardt da in „Geh aus, mein Herz“ gedichtet hat, dass es einen Garten Christi gibt, in dem man dann hinterher auch spazieren gehen. Oder ich glaube, sie wird schon gerne schaffen da auch.
Die Geschwister haben beschlossen, Weihnachten in diesem Jahr noch einmal dort zu feiern. Ohne die Mutter, aber mit all den vertrauten Ritualen. Mit vielen Liedern. Und auch mit Wolf-Dieters Enkelkind, das in diesen Tagen geboren wird.
… dann glaube ich – und das ist bei mir so- dass das Leben immer wieder neu geboren wird, und dass Gott die Kraft ist, die immer wieder Neues schafft.
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