Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

27NOV2024
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Es gibt Gefühle, die möchte niemand haben. Und hat sie eben doch. Eines dieser ungeliebten Gefühle ist die Scham. Ich glaube, fast alle könnten aus dem Stand erzählen, in welchen Situationen sie sich so sehr geschämt haben, dass sie das sprichwörtliche Mauseloch herbeigesehnt haben.
Scham hat viele Gründe, und viele Gesichter. Aber immer spielt da so ein Gefühl von Ungenügen mit: Ich bin nicht recht, so wie ich bin – und jetzt fliegt das auf, was ich immer zu verbergen versuche. Oder: was ich tue, ist nicht in Ordnung, und jetzt können es alle sehen. Ich kann mich aber auch ganz allein vor mir selbst schämen. Immer dann, wenn ich spüre: Was ich gerade nach außen darstellen will, das bin ich so doch gar nicht.
Scham hat immer etwas mit Ertapptwerden zu tun. So sieht es auch die Bibel. Schon das erste Menschenpaar im Paradies konnte der Versuchung nicht widerstehen, auch von den Früchten zu essen, die für die Menschen tabu sein sollten. Und als sie von Gott zur Rede gestellt werden, schämen sie sich. Sie fühlen sich ‚nackt‘, entblößt. Sie können sich nicht mehr verstecken, nicht mehr einhüllen in Rechtfertigungen und Ausreden.
Seither ist die Scham in der Welt, sagt die Bibel. Seither quälen sich die Menschen mit diesem brennenden Gefühl, nicht gut genug zu sein, vor anderen, vor sich selbst, und auch vor Gott. Oder: die Scham, zu einer Gruppe zu gehören, die etwas tut, das ich persönlich beschämend finde. Zu einem Land, einer Familie, einem Berufsstand, einer Clique. Fremdschämen, sagt man dafür heute.
Friedrich Nietzsche hat gefragt: „Was ist das Menschlichste?“ und selbst geantwortet: „Einander Scham ersparen.“ Ich finde, das stimmt. Und seit ich dieses Wort kenne, fällt es mir immer wieder mal ein. Situationen gibt‘s ja genug. Da bringt sich vielleicht jemand, den ich eh nicht mag, in eine peinliche Situation und liefert mir eine Steilvorlage, gleich noch eins draufzusetzen. Mit einer spöttischen Bemerkung. Mit einem vielsagenden Blick zu den andern. Ich kann‘s tun, ganz spontan – ich kann aber auch kurz innehalten und auf den kleinen Triumph verzichten.
„Was ist das Menschlichste? Einander Scham ersparen.“ Gleichsam den Mantel hinhalten, wenn jemand blamiert und entblößt dasteht. Und dankbar sein, wenn auch mir so ein Mantel gereicht wird, wenn ich wieder mal ein Mauseloch herbeisehne.

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