SWR4 Sonntags-/Feiertagsgedanken

17NOV2024
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Es gibt Gedenktage, mit denen tue ich mich schwer. Auf den ersten Blick zumindest. Der Volkstrauertag heute ist so ein Tag. Das Volk trauert um die Toten der beiden Weltkriege. Meine Generation hat diese Kriege weder direkt noch indirekt miterlebt. Dafür habe ich mich in der Schule und später immer wieder damit beschäftigt. Ist es nicht irgendwann auch mal gut?

Ich habe in diesen Tagen ein Foto in die Hand bekommen. Es trägt den Titel: „Taxis zur Hölle – und zurück – in den Rachen des Todes“. Es zeigt ein Boot, das 1944 Soldaten der Alliierten in der Normandie absetzt. Die Männer springen ins Wasser und waten die letzten Meter durch die Wellen zum Strand. Sie werden beschossen und viele erreichen das Ufer nicht. Die Boote drehen derweil ab und holen weitere Soldaten, die zur „Schlachtbank des Krieges“ geführt werden – so wie „Taxis zur Hölle“.

Braucht es den Volkstrauertag? Die Landung der Alliierten in der Normandie ist dieses Jahr 80 Jahre her. Allein an diesem Tag, dem sogenannten „D-Day“ sind bis zu 15.000 Soldaten gefallen. Väter, Ehemänner, Söhne. Bis heute werden aus dem 2. Weltkrieg 1,3 Millionen Soldaten vermisst. Ja, es braucht den Volkstrauertag – allein um an all das zu erinnern und den Hinterbliebenen zu zeigen, dass ihr Leid nicht vergessen ist.

Aber da ist noch mehr: ich habe das Gefühl, Gewalt ist heute wieder salonfähig. Die Kriege in der Ukraine und in Israel sind nur die Spitze des Eisbergs. Es fängt bereits auf dem Schulhof an: wenn Schüler draufschlagen statt Dinge auszuhandeln; immer nach dem Motto: „Der andere hat angefangen.“ Und es zieht sich durch: Nachbarn köpfen sich ihre Gartenzwerge, weil der ewige Streit leichter auszuhalten ist als zu sagen: „Du, ich hab das nicht so gemeint.“ Fehler zuzugeben ist auch in der Politik schwer. Wer sagt: „Ich war auf dem Holzweg und muss den Kurs korrigieren“, wird in der Regel abgesägt. Und ich denke auch an den Fremdenhass, der immer mehr um sich greift: Viele tun sich schwer mit dem, was sie nicht kennen. Leider ist es leichter, auf Klischees zu hören und Menschen wegen ihrer Kultur oder Religion zu verurteilen, als sich ernsthaft mit ihnen zu beschäftigen und nachzufragen: „Was steckt dahinter, dass ihr das so oder so macht – und damit so ganz anders als wir?“

Braucht es den Volkstrauertag? Ich glaube: ja, unbedingt. Er erinnert nicht nur daran, wie viele Menschen damals gestorben sind und wie viele Familien gelitten haben. Erzählungen und Bilder wie die von den „Taxis zur Hölle“ zeigen, wohin es führt, wenn Gewalt ausufert. Sie fordern mich regelrecht dazu auf, Konflikte und Gewalt schon im Keim zu ersticken – indem ich zum Beispiel nicht nur auf mein Recht poche, Fehler eingestehe oder mich ehrlich auf andere einlasse, die anders sind als ich.

 

Frieden – mehr noch: „Schalom“

Heute ist Volkstrauertag. In meinen Sonntagsgedanken habe ich überlegt, welche Rolle dieser Gedenktag 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg noch spielt. Mir zeigt er, wie Gewalt eskalieren kann, und er fordert mich heraus, schon im Kleinen etwas dagegen zu tun.

Streit und Gewalt, Krieg und Terror haben aber meist ganz konkrete Ursachen, die über das Klein-Klein hinausgehen. Friedlich zu sein und Frieden zu halten ist leicht möglich, wenn man zufrieden ist. Wer ausgenutzt oder verfolgt wird, will doch gerecht behandelt werden. Wer Hunger hat und nicht weiß, wovon er leben soll, sehnt sich nach einem besseren Leben. Das schlägt sich dann oft in Gewalt nieder: die Piraten vor Somalia greifen westliche Schiffe nicht aus Spaß an; in Israel fühlen sich Menschen bevormundet; und in Syrien kriselt es, weil sich Menschen betrogen und unterdrückt fühlen.

Ich will in keiner Weise Gewalt und Terror rechtfertigen! Aber wenn ich am Volkstrauertag an Kriege erinnere, muss ich mir auch überlegen, wie sie zustande kommen: Sie entstehen oft, wo Menschen unzufrieden sind. Und genau dort muss man ansetzen, um Frieden zu schaffen!

Das alte Judentum weiß das schon lange – obwohl oder gerade weil das alte Israel oft in Konflikte verstrickt war. Die jüdischen Texte der Bibel verwenden das Wort „Schalom“ für „Frieden“. Das deutsche „Frieden“ hängt mit „Einfriedung“ zusammen. Da schwingt mit, die Grenzen zu halten und sich abzugrenzen; auf dass mir keiner in die Quere komme. „Schalom“ hingegen ist mit dem hebräischen Wort „Vollkommenheit“ verwandt. Mitgedacht werden diejenigen, die hinter der Einfriedung leben. Friede hat also etwas mit einem heilen Zustand zu tun, der möglichst alle umfasst. Alle sollen zufrieden sein und bekommen, was sie brauchen, sie sollen aufeinander zugehen und überwinden, was zwischen ihnen steht.

Das ist ein echt schöner Gedanke, den die jüdischen Autoritäten heute und ihre Widersacher scheinbar schon fast vergessen haben. Die Propheten aus der Bibel wissen aber auch, dass „Schalom“ ein Ideal ist, das auf Erden kaum erreicht werden kann. Und doch werden sie nicht müde, Gerechtigkeit einzufordern, sich für die Menschen einzusetzen und immer wieder den Finger in die Wunde zu legen. Der Prophet Amos ist so einer. Er prangert an, dass die Reichen auf Kosten der Armen leben. Sie nutzen Menschen aus, um immer noch reicher zu werden.

Und was kann ich tun für den Schalom, also dafür, dass Menschen weltweit zufriedener sind? Die Antwort frustriert mich etwas, denn mir fallen nur die üblichen Dinge ein: faire Preise bezahlen und nachhaltig leben, Hilfsorganisationen unterstützen und Partei für die Schwachen ergreifen.

Aber kann ich damit wirklich etwas ausrichten? Ich sehe es ähnlich wie die Propheten: Für einen echten umfassenden Frieden müssten alle Menschen zusammenhalten und umdenken. Das wird nicht passieren. Und doch will ich dranbleiben – wie sie damals. Und ich will meine Hoffnung auf Frieden Gott anvertrauen; gerade heute am Volkstrauertag: „Herr, ich kann nicht mehr tun, als mein Bestes geben. Ich lege es in deine Hände. Verwandle du meine und alle unsere kleinen Schritte in Segen, damit Frieden wachsen kann – ein echter Schalom.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=41063
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