SWR Kultur Wort zum Tag
Die Feldmaus Frederick ist eine Erfindung des amerikanischen Malers und Schriftstellers Leo Lionni. Ein Bilderbuch aus dem Jahr 1967 erzählt ihre Geschichte: Da lebt Frederick mit seiner Familie in einer alten Steinmauer auf einem verlassenen Bauernhof. Und während alle anderen Mäuse eifrig Samen, Gras, Wurzeln und Kräuter in die Vorratskammern schleppen, sitzt er scheinbar untätig herum und tut gar nichts. In Wirklichkeit sammelt er aber auch: nämlich Farben, Sonnenstrahlen und Wörter. Und als Samen, Gras, Wurzeln und Kräuter allmählich zur Neige gehen, packt Frederick seine Schätze aus. Mit den anderen teilt er nun die gesammelten Sonnenstrahlen, um sie zu wärmen, die Farben, um den grauen Wintertagen zu trotzen und die Worte in Form eines Gedichtes. Damit ist Frederick ein lebendiger Beweis für das Bibelwort, dass die Maus - und erst recht der Mensch- nicht vom Brot allein lebt, sondern eben auch vom Wort, von Wörtern, von Träumen und inneren Bildern.
Auf Fredericks Spuren hat die Dichterin Eva Strittmatter ein schönes Gedicht für Erwachsene geschrieben. Sie nennt es „Vor einem Winter“ und es geht so:
Ich mach ein Lied aus Stille
und aus Septemberlicht.
Das Schweigen einer Grille
geht ein in mein Gedicht.
Der See und die Libelle.
Das Vogelbeerenrot.
Die Arbeit einer Quelle.
Der Herbstgeruch von Brot.
Der Bäume Tod und Träne.
Der schwarze Rabenschrei.
Der Orgelflug der Schwäne.
Was es auch immer sei,
Das über uns die Räume
Aufreißt und riesig macht
Und fällt in unsre Träume
in einer finstren Nacht.
Ich mach ein Lied aus Stille.
Ich mach ein Lied aus Licht.
So geh ich in den Winter.
Und so vergeh ich nicht.
Ja, es gibt Zeiten, da leben wir auch von dem, was wir an inneren Vorräten gespeichert haben. Von der Erinnerung an lichtdurchflutete Sommertage, wenn es dunkel ist. Von einem Gefühl der Hoffnung, wenn alles zum Verzweifeln ist. Vom verlässlichen Körpergedächtnis an Wärme, wenn uns friert. Vom Herbstgeruch nach Brot, wenn wir vergessen haben, was uns schmeckt. Von Gottes Wort, das über uns die Räume aufreißt und riesig macht, wenn’s uns eng wird ums Herz.
Eva Strittmatter, Ich mach ein Lied aus Stille (1973)
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