SWR Kultur Wort zum Tag

15NOV2024
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Nur wenige Meter von unserem Haus entfernt liegt am Rand eines schmalen Fußwegs ein Baumstamm im Gras. Er war einmal eine stolze Pappel mit einem beachtlichen Durchmesser. Vor vierzehn Jahren schon wurde sie gefällt und seither liegt sie da. Mit voller Absicht, denn sie soll Spaziergängern vor Augen führen, dass ihr Totholz vielen Tier- und Pflanzenarten als wichtiger Lebensraum dient. Es ist ein unglaublich langsamer Prozess, der da vonstattengeht, und wahrscheinlich wird es noch etliche Jahre dauern, bis von dem Baumstamm gar nichts mehr übrig ist. Ein wenig drastischer könnte man freilich auch sagen, dass an dieser Pappel der natürliche Verfallsprozess demonstriert wird, dem alles Organische unterliegt. Öffentlich zur Schau gestellte Verrottung. Mich erinnert sie jedenfalls auch an die eigene Vergänglichkeit.       

„Alle Menschen sind doch wie Gras. In ihrer ganzen Schönheit gleichen sie den Blumen auf dem Feld. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, wenn der Wind des Herrn darüber weht.“ So sagt es ein biblischer Poet, und ich stelle mir vor, dass er dabei auf einem solchen Totholzbaum sitzt und in den Novembernebel starrt. Der Melancholie verfallen ist er gleichwohl nicht. Denn er hat auch eine klare Vorstellung davon, was diesem allgegenwärtigen Stirb und Werde mit Macht Widerstand leistet: „Das Wort unseres Gottes bleibt für alle Zeit“, lautet sein Statement.   

Ausgerechnet Worte! Gibt es überhaupt etwas Flüchtigeres? Was sind schon Worte gemessen an der zähen Langlebigkeit eines Baumes? Schall und Rauch! Aber nach biblischer Überlieferung ist es ein Wort, das alles ins Leben gerufen hat: Den Baum, die Blume, das Gras, Menschen, Tiere und Mikroorganismen, ja die ganze Welt mit ihrem Kreislauf aus Leben und Sterben. Gott spricht. Spricht nur ein Wort. Spricht ein Machtwort. Und es geschieht. Und der christliche Glaube hat diesen Gedanken sogar noch radikaler weitergesponnen und behauptet: Wenn Gott einen ganzen Kosmos allein durch sein Wort hat entstehen lassen, dann kann er dem Tod, dem großen Vernichter, alles Lebendige auch wieder entreißen. „Ich glaube an die Auferstehung der Toten und das ewige Leben“, heißt das im Glaubensbekenntnis.

Und wenn ich am Totholzbaum vorbeikomme und das Leben in ihm am Werk sehe, kommt mir das gar nicht so unmöglich vor.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=41024
weiterlesen...