SWR Kultur Wort zum Tag
Als in den trüben Morgenstunden des sechsten November das Ergebnis der Präsidentschaftswahl in den USA früher als erwartet endgültig feststand, musste ich auf einmal an Amanda Gorman denken. An ihren ikonischen Auftritt mit sonnengelbem Mantel und rotem Haarband bei der Amtseinführung von Joe Biden im Januar 2021. Die jugendliche Poetin hat damals die ganze Welt in ihren Bann gezogen. Ein dünnes schwarzes Mädchen, wie sie selbst von sich sagt, das von Sklaven abstammt und von einer alleinerziehenden Mutter großgezogen wurde. Und davon träumt, einmal Präsidentin zu werden. Dieser Traum ist nun erst mal wieder ausgeträumt, nicht für sie, aber für Kamala Harris, die gerade versucht hat, ihn Wirklichkeit werden zu lassen.
Trotzdem: Die Rede, die Amanda Gorman vor vier Jahren gehalten hat, hat für mich nichts von ihrer prophetischen Kraft eingebüßt. Im Gegenteil. Sie steht für mich in der Tradition eines anderen großen Redners. In der Bibel steht er auf einem Hügel. Viele Menschen sind um ihn versammelt und hängen an seinen Lippen. Und er sagt ihnen: „Ihr seid das Licht der Welt. Verbergt es nicht! Habt keine Scheu! Lasst es leuchten vor den Menschen. Traut euch etwas zu!“ Und wie einen Kommentar zu diesem Satz aus Jesu Bergpredigt, höre ich Amanda Gorman sagen: „Wenn der Tag kommt, treten wir aus dem Schatten heraus, entflammt und ohne Angst. Die neue Morgendämmerung zieht auf, wenn wir sie befreien. Denn es gibt immer Licht, wenn wir nur mutig genug sind, es zu sehen, wenn wir nur mutig genug sind, es zu sein!“
Im Moment sieht es freilich eher danach aus, als hätte einer dieses Licht wieder ausgeknipst. Und viele fürchten sich vor einer langanhaltenden Phase der Dunkelheit. Mit ihren mutigen Worten, mit ihren Bildern von biblischer Kraft, mit ihrem Glauben an eine bessere Zukunft, bleibt Amanda für mich ein echter Lichtblick. Noch einmal mit ihren eigenen Worten: „Ein jeglicher wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen ohne Scheu. So steht es geschrieben in der Heiligen Schrift. Wenn wir dem Gebot der Stunde genügen und ans Ziel kommen wollen, werden nicht Schlachten zu schlagen, sondern Brückenschläge zu schaffen sein. So führt der Weg ins versprochene Licht. Den Hügel hinauf, wenn wir uns trauen.“
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