SWR Kultur Wort zum Tag
Wachsen. Mehr werden. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz der freien Marktwirtschaft oder des Kapitalismus. Und dieses Gesetz prägt unser Leben von A bis Z. Ich ärgere mich regelmäßig, dass mein Internet nicht so schnell funktioniert wie eine Straße weiter unten. Für mein E-Auto wünsche ich mir, dass es schneller lädt, damit ich nicht so lange Pausen machen muss. Bei jedem Industriebetrieb ist es eine mittlere Katstrophe, wenn er kein Wachstum vermelden kann. Wenn die Verkaufszahlen stagnieren oder gar rückläufig sind, dann stimmt die Welt nicht mehr, in der man sich eingerichtet hat. So sind wir getrimmt: Weniger werden darf es nicht! Verzicht ist in der Logik dieser Welt ein Schimpfwort.
Die Konsequenzen aber, die das hat, die ignorieren wir nach Möglichkeit. Tiere müssen in Massen und deshalb oft unter schlimmen Bedingungen gehalten werden, damit wir nicht auf billiges Fleisch verzichten müssen. Das Klima verändert sich mit furchtbaren Folgen, die kein vernünftiger Mensch mehr übersehen kann, weil wir zu viel und immer mehr Abgase produzieren. Wir plündern unseren Planeten rücksichtslos aus und zerstören den Lebensraum vieler Tiere und Pflanzen, weil wir meinen, für uns Menschen immer mehr davon beanspruchen zu können. Dass wir über die Erde und alles, was darauf existiert, verfügen können, ist so tief in unseren Lebensverhältnissen verwurzelt, dass wir den Schaden meistens nicht mehr wahrnehmen, der daraus entsteht. Es war schon immer und selbstverständlich so. Es steht uns zu, wir haben es verdient. Die immer vollen Regale im Supermarkt, den besten Impfstoff, billiges Benzin und mehrmals Urlaub im Jahr. Aber wer gibt uns dieses Recht?
Der Soziologe Harald Welzer fordert „eine Kultur, die das Aufhören lernt“[1]. Er weiß aber auch, dass das nur funktioniert, wenn man durchs Verzichten Lebensqualität gewinnt, wenn man dadurch glücklicher werden kann. Es gibt Menschen, denen das gelungen ist. Ein besonders überzeugendes Beispiel dafür ist Franz von Assisi. Er trug eine Vision in sich, wie wir Menschen und unsere Welt ursprünglich von Gott gedacht waren. Die brachte ihn dazu, das bürgerliches Leben mit all seinen Selbstverständlichkeiten aufzugeben. Von da an ging es ihm nicht um immer mehr Fortschritt, sondern um Reduktion, und aus dem reichen Sohn aus gutem Hause wurde einer, der nichts besaß und deshalb ein glücklicher Mensch war.
Ich habe nicht das Zeug zum Franz von Assisi. Aber ich verstehe, wie er dachte, und halte es für unabdingbar, mit der Schöpfung zu leben, nicht gegen sie. So gut es geht, mit kleinen Schritten.
[1] Harald Welzer, Nachruf auf mich selbst, Frankfurt/M., 2021, S. 119.
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