SWR4 Abendgedanken
In Tübingen gibt es gerade ein interessantes Experiment. Es heißt „Leer-Raum“[1] und findet in der evangelischen Stiftskirche statt. Alle Bänke wurden abmontiert, was den Eindruck, den die Kirche sonst macht, völlig verändert. Es ermöglicht zudem ganz andere, neue Möglichkeiten, den Raum zu nutzen.
Die Stiftskirche ist die mit Abstand größte Kirche in Tübingen, fast so etwas wie ihr Wahrzeichen, weil sich dort vieles abspielt, was für die Stadtgesellschaft wichtig ist. Auch die Gedenkstunde zur Reichspogromnacht morgen. Denn in Tübingen wurde am 9. November 1938 wie in vielen anderen Städten die Synagoge geplündert und niedergebrannt. Politik und Kirche, Schulen und Vereine erinnern daran und mahnen, dass dies nie wieder geschehen darf. Wie wichtig und aktuell das in diesen Zeiten wieder ist!
Die Feier morgen in der Stiftskirche wird in diesem Jahr wohl etwas anders aussehen, weil der Kirchenraum fast leer ist. Da stehen eben keine dicht gedrängten Bänke, die einen zwingen zu sitzen und verhindern, dass eine Bewegung entstehen könnte, oder ein Gespräch. Jede kann sich ihren Platz suchen, wo sie sein will, mit anderen zusammenstehen, die sie sich auswählt, oder ganz für sich sein, fast versteckt hinter einer Säule. Plötzlich kann man in der Kirche tanzen und die Orgel neu hören, weil sich in der leeren Kirche natürlich auch die Akustik verändert. Oder man schweigt einfach, genießt die Weite des großen Kirchenschiffs, den Raum, der auf einmal da ist, wenn alles weg ist, was sonst stört. Wenn sonst die Redner vorne stehen, auf Distanz und von hinten kaum zu sehen, können sie nun in der Mitte stehen und alle die zuhören, drum herum. Musiker können sich mit ihren Instrumenten in der Kirche verteilen und den Raum ganz anders mit Klang erfüllen. Es ist möglich, ein Glas Wein miteinander zu trinken und Brot zu teilen.
Ich weiß nicht, wie die Feier zur Reichpogromnacht morgen gestaltet sein wird. Aber was ich ahne: In dem leeren, offenen Raum wird der Geist sich freier entfalten können – der Geist Gottes in den Gedanken der Menschen. Egal ob sie Christen sind oder Juden oder gar nicht religiös, egal ob Schüler oder Professoren, egal welcher politischen Partei sie angehören. Solche Leer-Räume brauchen wir, die nicht festgelegt sind, sondern offen – für spontane Bewegung, für unerwartete Begegnung, für ungeahnte Begeisterung.
[1]https://www.leerraum-tuebingen.de
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40976