SWR4 Abendgedanken
Seit Schuljahresanfang unterrichte ich eine Klasse mit Jugendlichen, die nach Deutschland geflüchtet sind und nun Deutsch lernen wollen. Sie sind alle so zwischen 15 und 18 Jahre alt und kommen aus den verschiedensten Ländern: Syrien, dem Irak, Afghanistan und natürlich auch aus der Ukraine. Das ist echt spannend!
Ich bin ja von Haus aus ein neugieriger Mensch. Mich interessiert es, wie die Menschen in meinem Umfeld leben, was sie denken und was ihnen wichtig ist. Ich will sie kennenlernen, ihre Sicht auf das Leben besser verstehen und mich vielleicht dadurch auch zu etwas Neuem anregen lassen.
Aber, klar: In meiner neuen Klasse ist es gar nicht so einfach, sich trotz der Sprachbarrieren auf den Weg aufeinander zu zu machen. Ein Lächeln sagt viel. Das schon. Und ich weiß natürlich auch ohne, dass meine Schülerinnen und Schüler davon erzählen können, dass sie schon so manches erlebt haben und auch im Moment, hier im fremden Land und fern von allem Vertrauten, ganz schön die Zähne zusammenbeißen müssen. Das meine ich manchmal aus ihren Gesichtern lesen zu können. Ein unbeschwertes Aufwachsen geht mit Sicherheit anders.
Manchmal kommen mir diese Jugendlichen unendlich fremd vor. Wie haben sie gelebt, bevor sie nach Deutschland kamen? Kannten sie vor ihrer Zeit in Deutschland nur die Koranschule, in der auswendig gelernt wurde? Welches Bild von Frauen wurde ihnen gezeigt? Wir sind uns fremd. Es gibt viele innere Grenzen. Vorurteile bestimmt auch.
Aber, wir machen uns auch auf den Weg aufeinander zu. Letzte Woche habe ich zum Beispiel gelernt, dass mein afghanischer Schüler gar nicht „afghanisch“ als Muttersprache hat. Das gibt es nämlich gar nicht. Fast alle anderen dort sprechen Paschtu. Aber mein Schüler ist als Turkmene in Afghanistan aufgewachsen, eine kleine Minderheit dort. Er spricht Türkisch. Und als ich dann – mit Händen und Füßen – gefragt habe, ob denn Türkisch und Paschtu ähnlich seien, hat er mich angegrinst und gesagt: Das ist so wie Deutsch und Türkisch. Und dann mussten wir beide ziemlich lachen. Tja, wieder was gelernt.
„Einen Fremdling sollst du nicht bedrängen; denn ihr wisst um der Fremdlinge Herz, weil ihr auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen seid.“ Das trägt Gott uns im Alten Testament als Gebot der Gerechtigkeit und Nächstenliebe auf (2.Mose 23,9).
Ich hoffe, dass ich dem gerecht werde.
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