Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW
Es war kein schöner Anblick. An einem Morgen in diesem Herbst lag unser Hase tot im Gehege. Wahrscheinlich war ein Marder in der Nacht da und hatte ihm das Genick gebrochen.
Ich habe James, so hieß unser Hase, aus dem Käfig geholt, ihn in eine Kiste gebettet und zu einem speziellen Kühlcontainer für Tiere gebracht. Der Hase war nicht das erste tote Haustier an diesem Tag. Auch wenn es seltsam klingen mag - mir hat es geholfen, dass ich James zu seinen Gefährten legen konnte; zwischen ein schwarzes Schaf und eine grau-gestreifte Katze.
Erst in den Tagen danach ist mir bewusst geworden, wie unser Familienleben von diesem kleinen Tier geprägt war: Der Hase war der Grund, warum ich sechs Jahre lang jeden Morgen nach dem Aufstehen direkt in den Garten gegangen bin, im Schlafanzug, bei jedem Wind und Wetter. Ich habe James gefüttert und diese Minuten in der stillen Morgenkühle genossen. Abends war mein Sohn dran mit Füttern, und er hat das in seine Tagesroutine miteingebaut. Und jeder, der einkaufen gegangen ist, hatte den Hasen auf dem Zettel: Immer sind Kohlrabiblätter im Korb gelandet und frische, glatte Petersilie. Das war sein Lieblingsgrünzeug.
Bis wir den Hasenstall abgebaut haben, hat es einige Woche gedauert. Und jedem in der Familie ist in dieser Zeit dasselbe passiert: Wir sind routinemäßig am Stall vorbei und haben geschaut: Was macht der Hase grad? Schläft er, hat er leer gefressen? Und abends hat immer wieder einer gefragt: Ist der Hase schon gefüttert? Bis wir innegehalten haben und klar war: James ist nicht mehr da.
Dass so etwas passiert, ist ganz normal. In unserem Kopf sind diese Routinen gespeichert. Die Trauerforschung erklärt das so: Menschen und eben genauso Tiere, die uns nahestehen, die prägen uns; wie wir denken, wie wir fühlen und wie wir handeln – sie hinterlassen deshalb Spuren in unserem Gehirn. Und diese Spuren verschwinden nicht so einfach, wenn ein Tier oder gar ein lieber Mensch plötzlich nicht mehr da ist. Wenn wir sie vermissen, dann sind bestimmte Bereiche im Gehirn aktiv. Und deshalb rechnen wir zum Beispiel damit, dass ein Verstorbener plötzlich zur Türe reinkommt oder eben, dass unser Hase draußen auf sein Frühstück wartet. Wenn jemand stirbt, dann bleibt die Verbindung zu ihm trotzdem bestehen. Sie verändert sich nur mit der Zeit.
Auch wenn es nur ein kleines Zwergkaninchen war, es tut uns trotzdem gut, wenn wir ab und zu an James denken. Wir machen das gerne beim Essen, bei Kohlrabi-Sticks oder einer extra Portion Petersilie auf der Kartoffelsuppe. Und ich finde es in Ordnung, wenn wir von Zeit zu Zeit dazu auch eine Kerze anzünden.
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