Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

29OKT2024
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In diesem Sommer haben wir eine Reise in die Vergangenheit gemacht, mein Bruder und ich. Wir wollen das Land sehen, aus dem unsere Großeltern und Ur-Großeltern stammen. Wir möchten in dem Dorf stehen, in dem sie aufgewachsen sind und aus dem sie nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben wurden. Deshalb sind wir nach Polen gefahren, nach Jablonka Stara, rund 800 Kilometer von zuhause entfernt. Wir möchten erleben, wie es heute dort ist. Um dann davon zuhause erzählen zu können.

Mit einem alten Foto in der Hand stehen wir auf der Dorfstraße. Es zeigt den Giebel des Hauses, das unser Ur-Großvater 1929 gebaut hat. Und dieses Haus würden wir gerne finden. Wir zeigen das Foto einer Frau, die in ihrem Garten sitzt. Sie schüttelt den Kopf, versteht uns nicht, aber sie holt ihre Tochter. Als die nicht weiterkommt, klopft sie ans Fenster des Nachbarn. Der wiederum holt seinen Sohn, mit dem wir uns auf Englisch austauschen. Und noch mehr Nachbarn kommen dazu. Was dann passiert, das haben wir nicht erwartet: Die einen telefonieren, die anderen schicken unser Foto übers Handy an Freunde und Familien, die dritten bitten uns ins Haus, kramen in ihren alten Fotografien und bieten uns Kaffee an. Zwischendurch sitzen wir in einem Auto und werden zu Luci gefahren. Sie ist die Dorfälteste, 100 Jahre alt, und könnte was wissen. Nach zwei Stunden laufen alle Spuren zusammen. Und wir stehen tatsächlich vor dem Haus unseres Ur-Großvaters!

Wir bringen diese Geschichte und noch mehr Erlebnisse dieser Art mit nach Hause zu unseren Eltern; die sind mittlerweile über 80 Jahre alt. Es tut ihnen gut zu hören, dass für uns die Türen in Polen offen gestanden sind. Für sie ist das wie eine späte Versöhnung. Denn sie selbst haben das nicht erleben dürfen, als sie sich in den 80er Jahren in die alte Heimat aufgemacht hatten.

Versöhnung, das ist ein großes Wort und Versöhnung ist ein langer Weg. Damit der beginnen kann, braucht es vor allem Mut. Weil Versöhnung heißt: über geschehenes Unrecht hinwegzusehen; weil Versöhnung nicht nach Schuld fragt. In Polen haben die katholischen Bischöfe nach dem Zweiten Weltkrieg genau das getan: Obwohl Deutschland so viel Leid über die polnische Bevölkerung gebracht hat, haben sie den ersten Schritt gemacht. In einem Brief an die deutschen Bischöfe haben sie 1965 den berühmt gewordenen Satz formuliert: „Wir gewähren Vergebung und wir bitten um Vergebung“.

So eine mutige, unerwartete Geste, so einen ersten Schritt, den bräuchte jetzt auch der Nahe Osten. Denn ohne Vergebung und Versöhnung wird es keine gemeinsame Zukunft geben können. Nirgendwo.

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