Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW
Frisch zurück aus dem Urlaub wartet eine Flut von E-Mails in meinem Postfach Eine Nachricht sticht mir beim Überfliegen sofort ins Auge: Harmonium. Anders als die anderen öffne ich diese sofort.
Ein Verwandter schreibt mir, dass er wegen eines bevorstehenden Umzugs keinen Platz mehr für das bei ihm stehende altehrwürdige Instrument aus dem Familienbesitz hat und fragt, ob ich oder meine Geschwister vielleicht Interesse hätten. .
Harmonium.
Sofort treten Bilder vor mein inneres Auge. Das Wohnzimmer meiner Großmutter. In einer Nische das Harmonium, ein inzwischen mindestens 150 Jahre altes Instrument. Eine Art Heimorgel mit einem kunstvoll gestalteten Gehäuse aus Eichenholz. Darüber eine Holztafel. Dort steht in großen, geschwungenen Buchstaben: „Werfet euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat.“
Und auf einmal höre ich die altgewordene, zarte Stimme der Urgroßmutter, die zum etwas müden Klang des Harmoniums singt: „Breit aus die Flügel beide, o Jesu, meine Freude.“ Oder auch: „Wenn dein Aug’ ob meinem wacht, wenn dein Trost mir frommt, weiß ich, dass auf gute Nacht guter Morgen folgt.“
Für sie war das Harmonium viel mehr als ein Instrument. Das Harmonium und die davor stehende Bank, das war ein Zufluchtsort. Dann, wenn das Leben schwer wurde, manchmal zu schwer in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts, weil sieben hungrige Mäuler zu stopfen waren und kein Vater mehr da , der Geld nach Hause brachte.
Dann, wenn das Herz voller Trauer war, weil das Leben zweier Söhne viel zu früh zu Ende ging und die Hoffnung immer kleiner wurde, dass der geliebte Ehemann und Schwiegersohn doch noch aus dem Krieg zurückkehrt.
Dann, wenn es eigentlich nichts mehr zu sagen und kaum mehr etwas zu hoffen gab, dann war da das Harmonium und die Melodien, die ihren Weg aus ihm heraus fanden. Dann war da der Blick auf diese Tafel:
„Werfet euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat.“
Auch wegen all dem muss das Harmonium jetzt einen neuen Platz finden. Weil es noch heute davon erzählt, dass es Hoffnung gibt, wenn alles verloren scheint, und Melodien, die tragen, wo alle Worte versagen.
Weil wir Hoffnungsinstrumente brauchen, auf denen Lieder vom Leben gespielt und gesungen werden angesichts von Verzweiflung und dem Gefühl nicht mehr weiter zu wissen.
„Werfet euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat.“