SWR Kultur Wort zum Tag

25OKT2024
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Im Zug sind Plätze an einem Vierertisch frei geworden. Ich frage die Frau, die dort noch sitzt, ob ich mich zu ihr setzen darf. Sie wirkt erfreut und antwortet: „Sie sind der erste, der mich heute im Zug anschaut. Ich sitze seit Hannover hier, aber Sie sind tatsächlich der erste, der mich ansieht. Das ist schön.“ Was die Frau sagt, freut mich. Und ich frage mich, ob ich mich manchmal einfach neben jemanden setze, ohne den Blickkontakt zu suchen? Oder nehme ich automatisch Blickkontakt auf? Ehrlich gesagt bin ich mir nicht zu 100% sicher. Aber ich hoffe, dass es mir fast immer gelingt. Ich bin überzeugt, dass es einen Wert hat, wenn wir Menschen uns gegenseitig ansehen. Auch in der Öffentlichkeit. Ich kann gut akzeptieren, wenn Menschen für sich entscheiden, keinen Blickkontakt zu wollen, aber ich merke, dass mir Blickkontakt guttut.

Etwas pathetisch ausgedrückt könnte man sagen: „Angesehen werden“ führt zum Gefühl „angesehen zu sein“. Und ich glaube, „angesehen zu sein“ ist wichtig für uns Menschen. Zumindest erlebe ich in meiner Arbeit, was es mit Menschen macht, wenn dieses „Ansehen“ fehlt. Als Seelsorger und Berater begegnen mir immer wieder Menschen, die in ihrer Kindheit, in ihrem Beruf oder im Privaten Situationen erlebt haben, in denen sie nicht gesehen wurden. Sie leiden darunter oft auch noch viele Jahre später.

Die kurzen Begegnungen, bei denen wir anderen in die Augen schauen und angeschaut werden, können dieses Defizit sicherlich nicht ausgleichen. Trotzdem bin ich überzeugt, dass sie einen wichtigen Beitrag dazu leisten, gut zusammenzuleben. Und ich habe Angst, dass etwas verloren geht, wenn die Gelegenheiten einander anzusehen seltener werden, weil Maschinen das Gegenüber ersetzen. Die Kasse zum Selbstscannen ersetzt die Kassiererin, der Comfort-Check-In ersetzt den Kontakt mit dem Zugbegleiter, in einer fremden Stadt zeigt mir mein Handy den Weg und ich muss niemanden mehr danach fragen.

Wir verlieren damit Gelegenheiten, anderen Ansehen zu schenken und selbst angesehen zu werden. Das finde ich schade. Aber wenn mir das klar und wichtig ist, dann möchte ich die Gelegenheiten nutzen, die sich mir bieten. So wie neulich im Zug.

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