SWR Kultur Wort zum Tag
Gedichte in der U-Bahn! Das gibt's in Stuttgart. Sie hängen in den Waggons, und wenn ich mit der U-Bahn unterwegs bin, lese ich sie gerne. Eines hat mich besonders angesprochen:
Gegen Abend gerieten wir
in einen stau die alpen eine kreidezeichnung am horizont
irgendwann war das letzte auto verstummt
die kleine weiße kirche auf dem hügel
hielt die welt fest …..
Das Gedicht von Frank Schmitter greift eine Erfahrung auf, die wohl die meisten kennen. Reisende sind in einen Stau geraten. Das kann als Sinnbild verstanden werden: Die Reisenden wollten fort in ein anderes Leben und stecken doch fest, das Ziel in weiter Ferne, unwirklich wie eine Kreidezeichnung am Horizont. Schließlich machen die Reisenden Rast - bei einer „kleinen weißen Kirche“, wie es im Gedicht heißt. Mir kommt das Bild von einer Dorfkirche mit einer Piazza davor in den Sinn. Ein stimmungsvoller Platz, auf dem Einheimische ihren Abend genießen. Die Reisenden sind plötzlich in einer ganz anderen Welt gelandet. Und da passiert wohl etwas Überraschendes. Im Gedicht heißt es weiter:
die türen öffneten sich
in das leben der anderen die kinder
tauschten spiele proviant wanderte von hand
zu hand aus reisenden wurden siedler
die namen und herkunft tauschten
Mit wenigen Worten skizziert Frank Schmitter diesen wunderbaren Moment, in dem Gemeinschaft entsteht, weil sich Türen öffnen und Menschen aus ihrer engen geschlossenen Welt hinaustreten. Sie teilen, was sie haben – Spiele und Proviant. Sie erzählen, wie sie heißen und woher sie kommen. Und so werden aus Reisenden Siedler – wie es in dem Gedicht heißt. Als ob sie hierhergehören würden. Die kleine Szene spielt „Gegen Abend“ – so ist das Gedicht überschrieben. Das ist nicht zufällig. Abends wird man müde. Man sehnt sich nach einem Zuhause. Im Gedicht klingt so der Wunsch an, nicht mehr ruhelos unterwegs zu sein, sondern ankommen können.
Für die Reisenden wird „die kleine weiße kirche auf dem hügel“ zum Haltepunkt - sie „hielt die welt fest“. Eine eigenwillige Formulierung! Frank Schmitter geht es vermutlich um mehr als nur um ein Gebäude. Für mich ist diese kleine weiße Kirche auf dem Hügel eine wunderbare poetische Umschreibung für das, was Kirche und Religion sein können. Orte und Zeiten, an denen ich innehalten und ankommen kann. Wo ich meinen oft ruhelosen Alltag unterbreche, um Atem zu holen.
Das kann sich auch in der U-Bahn ereignen, in der ich zufällig ein Gedicht lese.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40892