SWR4 Abendgedanken
Für heute bin ich fertig – mit den Blättern auf dem Gehweg. Jedes Jahr dasselbe Theater: Die uralten Ahornbäume im Park gegenüber werfen ihre Blätter ab. Einen Teil davon weht der Wind in meine Richtung. Und ich muss sie dann zusammenkehren und entsorgen. Ein paar Wochen lang geht das so. Bis das letzte Blatt gefallen ist und Ruhe einkehrt. Bei den Bäumen, für meinen Besen und für mich.
Ich müsste das nicht haben - aber es geht halt nicht anders. Der Gehweg wird viel genutzt. Wenn die Blätter nassgeregnet sind, wird das die reinste Rutschbahn. Ich will niemand in Gefahr bringen.
„So ein Dreck“ schimpfte vor vielen Jahren eine Nachbarin über die Blätterflut. Ich habe ihre Stimme noch im Ohr und muss jedes Jahr dran denken, wie verärgert sie war. Ich sehe das anders. Ja, die Blätter sind lästig. Das stimmt schon. Aber ich habe damals beschlossen, dass für mich die Blätter kein Dreck sind. Und wenn es mich noch so anstrengt oder in meinen Plänen stört – die Blätter gehören zur Natur, sage ich mir und hole den Besen.
Andere werden das anders sehen. Aber für mich ist es kein Weltuntergang, sondern eine gute Arbeit: Beim Kehren bin ich an der frischen Luft und habe auch danach reichlich Bewegung. Denn die Säcke voller Blätter müssen ja noch mit dem Handkarren zum Wertstoffhof. Und es gibt Kontakte. Manchmal bleibt jemand kurz stehen und wir reden ein paar Worte. Auch nett. Leute lächeln mir zu, wenn ich einen Moment mit dem Besen pausiere, damit sie vorbeikommen. Kinder gucken, was ich da mache. Aber wehe, wenn der Wind meine mühsam zusammengekehrten Blätter sofort wieder auseinander pustet. Dann ist es auch mit meiner inneren Ruhe vorbei. Ich kann mich schon ganz heftig ärgern.
Aber – und das zieht sich durch vom ersten bis zum letzten Tag meines jährlichen kleinen Blätter-Kampfes: Mein größtes Gefühl ist Dankbarkeit. Jedes Jahr danke ich den riesigen Bäumen dafür, dass sie da gegenüber wachsen. Sie sind das ganze Jahr über wichtig. Im Frühjahr freue ich mich, wenn sie endlich wieder grün werden. Vögel wohnen in ihren Ästen und machen mich froh. Im Sommer spenden die Bäume richtig viel Schatten. Sie filtern die Luft und produzieren Sauerstoff. Und im Herbst, wie gesagt, zwingen sie mich zu Bewegung an der Luft. Ich bin so froh, ihr Bäume, dass Ihr vor über 100 Jahren dort gepflanzt worden seid. Und ich bin froh, dass ihr immer noch dasteht, groß und mächtig. Und voller Leben.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40877