Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW
Wenn ich so in den Herbstregen rausschaue, träume ich gerne ein bisschen von Orten, an denen es schön warm und sonnig ist. Warum muss ich hier im nebligen Neckartal sitzen? Nicht nur das Wetter gibt mir Anlass zu überlegen, ob es anderswo vielleicht besser wäre. Wenn ich am Schreibtisch in unserem alten Haus friere, wünsche ich mich in eine gut gedämmte Wohnung. Wenn mich etwas an meiner Arbeit nervt, denke ich über andere Stellen nach…
Woanders sein Glück suchen, wenn es zu Hause nicht läuft – das ist ein naheliegender Gedanke. Aber ist es eine Lösung? Eine alte jüdische Geschichte erzählt davon mit einem Augenzwinkern:
Die Geschichte handelt von einem frommen Mann: Eisik, dem Sohn Jekels. Eisik lebt in Krakau – und hat es schwer im Leben. Eines nachts aber hat er einen Traum. In diesem Traum bekommt er den Auftrag nach einem Schatz zu suchen – und zwar in Prag unter der Brücke, die zum Schloss führt. Als er den Traum zum dritten Mal hat, macht sich Eisik tatsächlich auf die lange Wanderung von Krakau nach Prag, um den Schatz zu suchen. Doch an der Brücke stehen Tag und Nacht Wachen, und er traut sich nicht, dort zu graben. Jeden Tag kommt er wieder und umkreist die Brücke bis zum Abend – bis schließlich einer der Wachen ihn aufmerksam wird. Ob er hier etwas suche oder auf etwas warte, fragt der Wachmann freundlich. Eisik erzählt von seinem Traum. Der Wachmann lacht ihn aus: „Da bist du armer Kerl nur wegen eines Traums so weit gewandert… Ja, wer Träumen traut! Da hätte ich mich ja auch auf den Weg machen müssen, als ich im Traum den Rat bekam, nach Krakau zu wandern und in der Stube eines Eisik, Sohn Jekels, unterm Ofen nach einem Schatz zu graben…“ Als Eisik das hört verneigt er sich höflich, wandert heim, gräbt den Schatz aus und baut davon ein Bethaus.
Der jüdische Philosoph Martin Buber erzählt diese alte Geschichte. Für ihn gibt die Geschichte eine Antwort auf die Frage, wo wir unser Glück finden. „Es gibt etwas“, schreibt Buber dazu, „was man an einem einzigen Ort in der Welt finden kann. Es ist ein großer Schatz, man kann ihn die Erfüllung […] nennen.“ Diesen Schatz, da ist Buber überzeugt, findet man nicht ganz woanders, sondern: „Da, wo wir stehen, da, wo wir hingestellt worden sind.“ Also, wie Eisik in der Geschichte, quasi bei uns zu Hause. In dem, was uns Tag für Tag begegnet und fordert. In der kleinen Welt, die uns anvertraut ist.
Ich glaube, Buber hat recht. Das Ziel ist, das zu finden, wofür es sich zu leben lohnt: Heute – und genau da, wo ich gerade bin.
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