Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW
Nein, schön ist das nicht mehr! Von meinem Fenster aus kann ich ein großes Sonnenblumenfeld sehen. Vor einigen Wochen noch war es eine richtige Augenweide: ein Meer von leuchtend gelben Blüten. Inzwischen sieht das Feld gar nicht mehr gut aus. Die Pflanzen sind braun geworden, die Blüten vertrocknet, die Blätter hängen dürr und kraftlos nach unten. So trist ist der Anblick, dass die Landwirtin eine Nachricht zur Erklärung in eine lokale Chatgruppe geschrieben hat: Man soll die welken Sonnenblumen auf den Feldern bitte nicht beschädigen. Denn: Jetzt erst reifen die Kerne, aus denen das Sonnenblumenöl gemacht wird.
Die Nachricht hat mir gefallen, weil ich gemerkt habe: Ein bisschen geht es uns Menschen auch wie den Sonnenblumen. Es gibt Zeiten im Leben, in denen wir aufblühen, eine kraftvolle Ausstrahlung haben. Und dann gibt es Zeiten, in denen unsere Spannkraft und Attraktivität nachlässt. Aber ich glaube: Auch in uns reift dann oft etwas Wertvolles.
Das kann zu jeder Zeit im Leben passieren – spätestens aber im Alter. Wenn man älter wird, ganz langsam merke ich es auch, ist der Körper nicht mehr so leistungsfähig. Und es dauert länger, Neues zu lernen. Wer noch älter ist als ich, weiß: Manches geht irgendwann nicht mehr! Meist keine schöne Erfahrung…
Aber es ist eben im Laufe des Lebens auch etwas gereift. Etwas, das – wie die Kerne in der Sonnenblume – auch für andere wertvoll ist:
Im Alter reift auf jeden Fall die Erfahrung. Wer schon viele Jahre gelebt hat, dem ist meist nichts Menschliches mehr fremd – und Jüngere können, wenn sie zuhören, viel davon profitieren. Mit der Lebenserfahrung wächst im Alter im besten Falle auch die Gelassenheit: Wer schon viel erlebt hat, kann eher einordnen, worüber es sich lohnt, sich aufzuregen – und worüber nicht. Und nicht zuletzt reift im Alter auch die Einsicht, dass wir alle begrenzte Kräfte haben – und ja, auch eine begrenzte Lebenszeit. Eine Einsicht, finde ich, die auch wir Jüngeren ernster nehmen sollten.
Klar ist: Bei aller wertvollen Reife – einfach ist das Altwerden meist nicht. Deshalb finde ich den Bibelvers so tröstlich, in dem Gott verspricht, dass er nicht nur in den Blütezeiten des Lebens da ist: Auch bis in euer Alter bin ich derselbe, und ich will euch tragen, bis ihr grau werdet, steht im Jesajabuch.
Das verblühte Sonnenblumenfeld vor meinem Fenster sehe ich auf jeden Fall mit anderen Augen, seit ich über die Sonnenblumenkerne nachdenke, die darin reif werden – und über das Altern. Das, was daran wertvoll ist, sieht man manchmal nicht auf den ersten Blick.
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